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In Afghanistan hat N. als Ortskraft gearbeitet. Merz‘ Regierung habe ihn und seine Familie im Stich gelassen: „Wir haben alles verloren, weil wir dem Versprechen geglaubt haben.“
Kabul – Noch vor wenigen Tagen hatten Samim Jabari und Jule Klemm von der Hilfsorganisation Mission Lifeline im Gespräch mit unserer Redaktion das Schicksal einer früheren afghanischen Ortskraft und deren Familie geschildert. Am Mittwoch (17. Dezember) dann die Nachricht: Nachdem die Bundesregierung eine Reihe von Aufnahmezusagen aus dem sogenannten Ortskräfteprogramm für Afghaninnen und Afghanen widerrufen hatte, wurde die Familie von Pakistan aus nach Afghanistan abgeschoben. Das berichten Klemm und Jabari gegenüber der Frankfurter Rundschau von Ippen.Media. Aus Sicherheitsgründen anonymisieren wir den Betroffenen und nennen die afghanische Ortskraft N.
Nach der Taliban-Machtübernahme im Jahr 2021: US-Soldaten bei einer Evakuierungsoperation für Zivilisten in Afghanistan. © U.S. Marines via www.imago-images.de
„Wir haben alles verloren, weil wir dem Versprechen geglaubt haben, nach Deutschland zu kommen“, erklärt der frühere lokale Mitarbeiter in einer Nachricht, die Jabari für uns übersetzt. N. sieht sich von der Bundesregierung im Stich gelassen. „Wenn die deutsche Regierung uns nicht nach Deutschland holen und dann nach Afghanistan zurückschicken wollte, warum hat sie uns dann so grausam behandelt?“, fragt er in Richtung der Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz (CDU). Nicht nur N. wurde abgeschoben – mit ihm wurden auch seine Ehefrau und ihre vier Kinder nach Afghanistan zurückgeschickt.
Afghanistan-Ortskraft: „Ich habe mein ganzes Leben mit der deutschen Regierung zusammengearbeitet“
Seit vier Jahren ist dort wieder die radikal-islamistische Terrorgruppe Taliban an der Macht. Im Sommer 2021 beendeten die USA und Deutschland ihren Afghanistan-Einsatz überstürzt, während die Taliban das Land einnahmen. Die 20-jährige Militäroperation: gescheitert. Die sogenannte militärische Evakuierungsoperation der Bundeswehr: Chaos. Auch Jabari stammt aus Afghanistan und hat sieben Jahre für die Bundeswehr als TV-Journalist gearbeitet – nach einem mühsamen Weg konnte er nach Deutschland kommen, wo er heute lebt.
Menschen, die vor der Machtübernahme der Taliban für die Bundesregierung gearbeitet haben und anderen besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen versprach Deutschland damals, sie in Sicherheit zu bringen: So auch N. – ein Versprechen, das jedoch nicht eingehalten wurde. „Ich habe mein ganzes Leben lang mit der deutschen Regierung zusammengearbeitet“, schreibt er am Donnerstag in einer Nachricht. Doch insbesondere seine Familie rückt er in den Vordergrund: „Wenn es eine Strafe geben sollte, dann hätte sie nur mich treffen dürfen. Meine Kinder waren unschuldig. Was haben sie verbrochen, dass sie ein Jahr Schule und ein normales Leben verloren haben?“, fragt N. in Richtung der Regierung Merz.
Afghanistan-Ortskraft abgeschoben: „Die Zukunft für mich und meine Familie ist ungewiss“
Nach der Machtübernahme der Taliban und infolge der Aufnahmezusage aus Deutschland war die Familie von Afghanistan nach Pakistan eingereist, wo sie sich rund ein Jahr aufhielt und auf eine Weiterreise nach Deutschland hoffte. Die Kinder konnten dort nicht zur Schule gehen, ein normales Leben war kaum möglich. Vor der Abschiebung nach Afghanistan sei die psychische Belastung für die Familie so groß gewesen, dass sie in einem Krankenhaus behandelt werden mussten, schilderte Jabari im Gespräch mit unserer Redaktion vor wenigen Tagen.
„Wir haben alles verloren, weil wir dem Versprechen geglaubt haben, nach Deutschland zu kommen.“
Für die Reise nach Pakistan vor rund einem Jahr hatte die Familie in Afghanistan ihren Besitz verkaufen oder zurücklassen müssen. Somit droht ihnen in Afghanistan nicht nur die Verfolgung durch die Taliban; auch an eigenen Mitteln zur Sicherung der Existenzgrundlage fehlt es der Familie. N. schreibt über seine aktuelle Situation: „Jetzt bin ich obdachlos und habe keinen eigenen Platz mehr. Die Zukunft für mich und meine Familie ist ungewiss.“ Und: „Wir haben alles verloren, weil wir dem Versprechen geglaubt haben, nach Deutschland zu kommen.“ Aktuell kommt die Familie bei Verwandten und Freunden unter, wie N. erklärt. Wie lange das noch möglich ist, sei ungewiss.
Nach Entzug der Aufnahmezusage durch Merz‘ Regierung – GIZ schickt Afghanistan-Ortskraft zurück
In Pakistan habe die Familie in einem Gästehaus der Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gelebt. „Die pakistanische Polizei und ihr Sicherheitsdienst, der ISI, kamen zweimal und warnten uns, dass wir abgeschoben würden. Sie kopierten alle unsere Dokumente, eines nach dem anderen“, schreibt N.: „Sie teilten uns in Absprache mit der GIZ mit, dass sie der GIZ eine Frist setzen würden. Wenn wir Pakistan bis zu diesem Datum nicht verlassen würden, um entweder nach Deutschland oder zurück nach Afghanistan zu reisen, würden wir in unser Land abgeschoben werden.“
Nachdem die Bundesregierung die Aufnahmezusage der Familie widerrufen hatte, habe die GIZ einen Flug organisiert und sie zurück nach Afghanistan geschickt. Dort lebe die Familie nun versteckt: „Unsere nahen Verwandten und Freunde haben uns mit Lebensmitteln und dem Nötigsten versorgt, insbesondere um unsere Kinder am Leben zu erhalten und sie nicht hungern zu lassen.“ Unter deutschem Schutz sei die Familie nun nicht mehr: „Die deutsche Regierung hat uns keine Hilfe geleistet.“
Vertreterin der Hilfsorganisation Mission Lifeline: „Ich schäme mich für die Ignoranz Deutschlands“
Jule Klemm warnte bereits im Gespräch mit unserer Redaktion vor wenigen Tagen mit Blick auf frühere afghanische Ortskräfte: „Das sind gerade besonders schutzbedürftige Menschen, die nun sicher in die Hände der Taliban geraten werden und im schlimmsten Fall mit dem Tod rechnen müssen.“ Und auch Jabari erklärte: Die Taliban betrachten ehemalige Mitarbeiter westlicher Organisationen als „Spione, die getötet werden müssen“. Sollten schutzbedürftige Afghaninnen und Afghanen mit einer Aufnahmezusage aus Deutschland in die Hände der Taliban fallen, sei letztendlich „die Regierung dafür verantwortlich“, sagte Klemm.
Nach der Abschiebung der Familie nach Afghanistan sagt sie: „Es ist skrupellos, zuzulassen, dass Ortskräfte nach Afghanistan abgeschoben werden. Afghanische Ortskräfte bedeuten der Bundesregierung offensichtlich nichts mehr.“ Der Regierung aus Union und SPD sei „anscheinend egal, ob sie aufgrund ihrer jahrelangen Arbeit für die Deutschen nun verfolgt, gefoltert oder getötet werden“, kritisiert Klemm: „Ich schäme mich für die Ignoranz Deutschlands.“ Zudem sagt die Leiterin des Afghanistan Projekts bei Mission Lifeline: „Sollte sich in einem Klageverfahren herausstellen, dass die Ortskraft doch ein Recht auf ein Visum in Deutschland gehabt hätte, könnte dies für sie zu spät sein.“
Merz‘ Regierung widerruft Aufnahmezusagen von rund 130 Afghanistan-Ortskräften
Nach Angaben der Hilfsorganisation Kabul Luftbrücke hat die Bundesregierung die Aufnahmezusagen von rund 130 früheren Ortskräften widerrufen. Menschen mit einer Zusage aus dem Bundesaufnahmeprogramm lässt die Regierung aktuell zwar von Pakistan nach Deutschland bringen. Die über 100 Afghanistan-Ortskräfte sowie rund 650 Menschen mit Zusagen über die Menschenrechtsliste und aus dem Überbrückungsprogramm will die Regierung unter Bundeskanzler Merz hingegen nicht aufnehmen.
An Zusagen aus den zuletzt genannten Aufnahmeprogrammen sieht sie sich rechtlich nicht gebunden. Die Entscheidung, über 100 Ortskräfte ebenfalls nicht aufzunehmen, erfolgte wiederum überraschend, nachdem Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) nur kurz zuvor erklärt hatte, für diese Menschen eine „nachlaufende Verantwortung“ zu sehen.
Sicherheit von Afghaninnen und Afghanen bedroht: „Im Moment sehe ich keine helle Zukunft vor mir“
Ursprünglich hatte die Regierung in Pakistan der Bundesregierung Zeit bis Jahresende gegeben, um die Verfahren der Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage aus Deutschland abzuschließen. Danach wolle Pakistan die Menschen zurück nach Afghanistan abschieben, hieß es. Die Grenze zum Nachbarland ist aktuell geschlossen. Dennoch hat Pakistan die Abschiebungen bereits vor Jahresende wieder aufgenommen. Die Sicherheit der Betroffenen ist nun massiv bedroht.
Auch nach dem Entzug der Aufnahmezusage können Betroffene vor deutschen Gerichten klagen. Doch nach einer Abschiebung nach Afghanistan sei es wesentlich schwieriger, diesen Menschen zu helfen, erklärt Jule Klemm. Das gilt nun auch für N. – er schreibt zum Ende seiner Nachricht: „Im Moment sehe ich keine helle Zukunft vor mir.“ (Quelle: Eigene Recherche, Mission Lifeline, Kabul Luftbrücke) (pav)