Leipzig. Leipzig wächst, wird voller, teurer – und für immer mehr Menschen unsicher, denn die Armut steigt. Fünf Obdachlose und von Armut betroffene Leipzigerinnen und Leipzigern erzählen, wie sie auf die gesellschaftlichen Veränderungen blicken – und verraten ihre Wünsche.
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Florian, obdachlos: „Wir werden für den Müll verantwortlich gemacht“
„Mein Alltag bestand nur noch aus arbeiten, trinken, schlafen. Ich musste da raus“, sagt Florian. Jetzt sitzt der Mann aus dem Schwarzwald auf einer Steinmauer in Leipzig. Mit einem kleinen Gerät dreht er Zigaretten, den dampfenden Kaffee trinkt er schwarz. Es ist kalt, seine Jacke dick, hat einige Löcher. „Wenigstens regnet es nicht“, sagt der 36-Jährige. Seit zehn Monaten ist Florian obdachlos.

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Wenn Florian spricht, tut er das überlegt, wirkt eloquent, gebildet. Wieso lebt er auf der Straße? „Das hat viele Gründe“, beginnt er. Persönlichkeitsstörung, Rausschmiss von zu Hause, Pflege seiner kranken Mutter, Ausbeutung im Job – schließlich die Alkoholsucht. „Ich habe zwölf Flaschen Bier und eine Flasche Wein am Tag getrunken.“ Sein Arbeitgeber schmiss ihn raus. „Aber ich war selbst schuld“, betont der gelernte Mediengestalter.
Ohne Rücklagen kamen Schulden dazu. Seine Wohnung verwahrloste. Der Mietvertrag wurde gekündigt. Was tun? „Ich wollte in die Ukraine, vor Ort helfen.“ Er fuhr los. Doch dann wurde ihm klar: ohne Reisepass keine Einreise. Sein Zug hielt in Leipzig – und er stieg spontan aus. Seitdem ist er hier.
In der Gemeinschaft ist es sicherer. Es wird viel geklaut, Gewalt gibt es auch.
Florian
Obdachloser
„Die Stadt ist wunderschön“, findet Florian. Er schätzt das viele Grün und das Kulturangebot, hat Kirchen und Museen besucht. „Ich habe zum ersten Mal den Sommer genossen.“ Er lächelt. Was für viele seltsam klingen mag: Durch die Obdachlosigkeit habe er auch ein Stück Freiheit zurückgewonnen. „Ich trinke weniger und bin klarer im Kopf.“
Trotzdem will er weg von der Straße. Sein Wunsch: „Eine Wohnung und ein Job, der mich erfüllt. Geld ist nicht so wichtig.“ Vor ein paar Wochen war er erstmals beim Peer-Projekt von „SAFE“, der Straßensozialarbeit für Erwachsene. Obdachlose sollen dort zu Streetworkern ausgebildet werden. „Streetworker kann ich mir sehr gut vorstellen.“
Sich um andere kümmern, das ist Florians Art. Erst seine Mutter, jetzt seine Mitmenschen. „Ich habe eine Sanitäter-Tasche und verarzte andere Obdachlose“, erzählt er. Als Florian vom LVZ-Reporter vom Treffpunkt, der Wohnungslosenhilfe „Oase“, abgeholt wird, ist er gerade dabei, einen Mann mit einem dicken Schlafsack zuzudecken. Er drückt den Stoff vorsichtig am Körper fest, „damit keine Kälte reinschleicht“.
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Aber wer kümmert sich um ihn? „Hier bei der Oase unterstützen wir uns gegenseitig.“ Bis vor Kurzem zelteten die Obdachlosen hier gemeinsam, bevor das Camp geräumt wurde. „In der Gemeinschaft ist es sicherer. Es wird viel geklaut, Gewalt gibt es auch.“

Florian lobt das Oase-Team, nennt die Bahnhofsmission, Streetworker und Projekte wie „Meals on Wheels“. Trotzdem habe das Hilfesystem der Stadt Lücken, erreiche nicht jeden.
Und die Leipzigerinnen und Leipziger, wie schauen sie auf Obdachlose? Florian bettelt nicht, weiß aber um die hohe Spendenbereitschaft der Menschen. Die gesellschaftliche Akzeptanz für Obdachlose sei hingegen eher gering. Blicke, Kritik, Klischees. Schuld seien womöglich die „rund zehn Prozent Stressmacher“, schätzt er. Sie werfen ein schlechtes Licht auf die Szene. „Wir räumen regelmäßig vor der Oase und in den anliegenden Straßen auf, trotzdem werden wir für den Müll verantwortlich gemacht.“
Wenn er mitgestalten könnte? „Ich wünsche mir kostenlose, zentral gelegene Lagerflächen für Obdachlose“, sagt er, ohne zu überlegen. „Da wäre auch der Schal, den meine Mutter mir gestrickt hat, sicher verwahrt.“ Ständig sein Hab und Gut mit sich zu schleppen, sei extrem belastend. Außerdem bräuchte es mehr Notschlafstellen in Zentrumsnähe.
Dieses Jahr ist er erstmals zu Weihnachten weit weg von seiner Heimat – und seiner Mutter. Was löst das bei ihm aus? „Früher haben wir aufwendig gekocht und die Feiertage zusammen verbracht. Dieses Jahr lasse ich Weihnachten eher auf mich zukommen. Ich habe kein Verhältnis mehr zu diesem Fest.“
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Phoebe*, suchtkrank: „Vorbeilaufende gucken entweder überhaupt nicht oder herablassend“
Den wichtigsten Kraftakt hat Phoebe schon gemeistert: das Eingeständnis, es nicht allein zu schaffen und Hilfe zu suchen. Die 43-jährige Leipzigerin ist drogenabhängig. Neben dem mühsamen Kampf gegen die Sucht und Depressionen sowie um den Kontakt zu ihren Kindern hat sie eine weitere existenzielle Baustelle.
Lange drohte Phoebe der Verlust ihrer Wohnung, und noch ist die Gefahr nicht komplett gebannt. Was wiederum mit ihrer Krankheit zu tun hat. Die erste Kündigung bekam sie 2021 kurz nach Beginn einer stationären, halbjährigen Therapie. Weil diese wegen der zuvor nötigen vierwöchigen Entgiftung länger als sechs Monate dauerte, stellte das Jobcenter die Zahlungen ein. Phoebe brach daraufhin die Behandlung ab, statt eines erhofften Neustarts stand sie vor der Obdachlosigkeit.

„Ich war völlig überfordert und hatte keine Kraft mehr“, sagt Phoebe. Durch einen Hinweis vom Vermieter und Umwege über das Ökumenische Wohnprojekt Quelle e. V. kam der Kontakt zum Caritas-Dienst „Ambulant betreutes Wohnen in der Wohnungsnotfallhilfe“ zustande. „Ohne meine Betreuerin und ohne diese Unterstützung wäre ich auf der Straße gelandet.“
Mitarbeiterin Barbara Enkel gibt ihr Hilfe zur Selbsthilfe, begleitet sie bei Behördengängen, hilft beim Beschaffen von Nachweisen und der Korrespondenz mit Vermieter und Ämtern.
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Durch diese Unterstützung konnte die Mutter von drei Kindern – eins ist erwachsen, die beiden anderen im Teenie-Alter derzeit bei ihrem Vater – ihre Wohnung halten. 2024 allerdings kam es zu einem Rückfall und einem weiteren Problem: Phoebe entwickelte ein ebenfalls suchtbehaftetes Messi-Verhalten.
Im vergangenen Jahr trat sie erneut eine Therapie an; seitdem ist sie drogenabstinent. Und dass, obwohl während ihres Klinikaufenthaltes in ihre Wohnung eingebrochen und diese komplett zugemüllt wurde.
„Als ich davon erfuhr und die Berge aus Abfall bis zur Zimmerdecke sah, war das ein Schock.“ Phoebe erhielt erneut eine Kündigung wegen „mietwidrigen Verhaltens“. Der Fall ging vor Gericht, aber zu ihren Gunsten aus. Die Richterin erkannte an, dass sie das Chaos nicht verschuldet hatte.
Mittlerweile ist das Schlimmste abgewendet, Phoebe kann in ihrer Wohnung bleiben. Ihr Messi-Verhalten muss sie jedoch ebenso im Griff behalten wie die Drogen-Abstinenz. Die 43-Jährige, seit über eineinhalb Jahren clean, sucht nun eine ambulante Therapie und psychische Stabilisierung. „Ich möchte irgendwann arbeiten gehen können und durch ein Wechselmodell meine Kinder wieder bei mir haben“, sagt sie.
Viele denken, dass Bürgergeld-Empfänger faul sind und keine Lust haben, zu arbeiten. Dabei sind die allermeisten nicht freiwillig in dieser Lage.
Phoebe
von Armut Betroffene
Das ist die lange Sicht. Phoebe, eine aufgeschlossene Frau, die trotz aller Hindernisse nicht den Blick auf Ziele verliert, möchte das werden, was man „vollwertiges Mitglied der Gesellschaft“ nennt. Bereits diese Sprachschablone beschreibt die Herabwürdigung, die Betroffene wie Phoebe fühlen. Für eine Umgebung, die sich über Leistungen und Status definiert, sind sie demnach weniger wert.
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„Schon bei den Klamotten zeigt sich ja: Wer einen bestimmten Standard nicht hat, ist außen vor.“ Phoebe wünscht sich mehr Differenzierung von den Leuten, denen Armut fremd ist. „Manchmal unterhalte ich mich am Leuschner-Platz mit Obdachlosen. Die Vorbeilaufenden gucken einen entweder überhaupt nicht an oder herablassend.“
Sie wünscht sich, dass Menschen ohne Wohnung oder ohne Job ebenso als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden wie gut Betuchte. „Viele denken, dass Bürgergeld-Empfänger faul sind und keine Lust haben, zu arbeiten. Dabei sind die allermeisten nicht freiwillig in dieser Lage.“
Den Rummel rund um Weihnachten beobachtet sie skeptisch, manchmal beinahe amüsiert. „Richtig gesund ist dieses Hetzen nach Geschenken auch nicht“, findet sie.
Wie sie Weihnachten verbringt? Mit ihren Kindern und bei ihrer Mutter. Alle bekommen kleine Geschenke, mehr geht halt nicht. „Ich habe keine Ansprüche an das Fest. Bloß friedlich und ohne Druck soll es sein.“
David*, obdachlos: „Wäre der Staat ein Mensch, ich würde ihn packen und durchschütteln“
„Eigentlich brauchst du nur einen Ort, wo du die Tür hinter dir zumachen kannst“, sagt David leise. Er steht auf einem Supermarkt-Parkplatz, schmächtig, die große Mütze rutscht ihm fast über die Augen. Er ist Anfang 40, geboren in Leipzig. Seit rund zehn Jahren lebt er ohne eigene Wohnung.
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Wenn David erzählt, tut er das bedächtig. Erst zurückhaltend, dann taut er auf. „Bis 2007 hatte ich ein ganz normales Leben“ Ausbildung, Freunde, Wohnung, Arbeit im Hotel. Er lud zu sich ein, zockte an der Konsole, ging in Bars. Damals genoss er „Leipzigs gute Seiten“: Kinos, Theater, Clubs. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal diese andere Seite kennenlernen würde“, sagt er heute.
Der Bruch kam schleichend. Seine Mutter, die ihn und seine jüngere Schwester allein großzog, entwickelte psychische Probleme, lebte zunehmend in ihrer eigenen Welt.
Bin ich weniger wert?
David
Obdachloser
David schloss seine Ausbildung ab, doch die mentale Belastung wuchs. Als ältester Sohn fühlte er sich verantwortlich für Mutter und Schwester. Er gab seinen Job in einer Hotelbar auf. Danach folgten Praktika, Übergangslösungen, nichts Dauerhaftes. Er entwickelte Essstörungen. „Ich war abgemagert, kam in eine Klinik.“ 2015 verlor er seine letzte eigene Wohnung.
„Draußen ist es hart“, sagt er. Diebstahl und Gewalt gehören dazu. In einer Unterkunft wurde ihm die Geldbörse gestohlen. Er bezeichnet sich als Pazifist. „Aber manchmal musst du dich wehren, auch körperlich.“
Besonders zermürbend empfindet er die Bürokratie. Ihm fehlten 15 Euro für einen vorläufigen Ausweis. Ohne Ausweis kein Geld, ohne Geld kein Ausweis. Von Behörden fühlt er sich abgefertigt.
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Er spricht von gesellschaftlicher Kälte, von fehlender Empathie. Tagsüber sucht er Schutz und Wärme in öffentlichen Gebäuden. Dort wird er manchmal hinausgeschickt. „Dann fragst du dich schon: Bin ich weniger wert?“ Er erkennt zwei Welten in Leipzig: Menschen mit Arbeit, Wohnung, Sicherheit – und die darunter.
David ist introvertiert. In der Kontaktstube ist ihm die Nähe manchmal zu viel. Dann setzt er die dicken Kopfhörer auf, schaut Tagesschau oder hört Musik, Elektro oder Filmmusik.
Eine Wohnung sei für ihn die Basis. Erst dann könne man sich pflegen, Bewerbungen schreiben, wieder planen. „Gerade lebe ich von Woche zu Woche.“ Auch finanzielle Sicherheit wünscht er sich. Nicht aus Luxus. „Einfach, um nicht ständig Angst zu haben.“
Das Problem der Armut, sagt er, sei längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. „Wäre der Staat ein Mensch, ich würde ihn am liebsten packen und durchschütteln. Was machst du mit uns?“
David zieht die Mütze wieder hoch und blickt in die Ferne. Was wünscht er sich zu Weihnachten? „Weltfrieden“, sagt er sofort. Und für sich? „Einen Ort, wo ich die Tür zumachen kann. Meine eigene Wohnung.“
Fabian, wohnungslos: „Es gibt Jugendliche, die spucken auf uns, treten“
Fabian kneift ein Auge zu. Die Sonne blendet. Er ist groß, kräftig gebaut, spricht laut und bestimmt. Gleichzeitig liegt in seiner Stimme eine Unsicherheit, die hörbar ist, wenn es persönlich wird. Fabian ist 28 Jahre alt. „Ich bin wohnsitzlos“, sagt er. „Nicht obdachlos. Ich penne in einer Notschlafstelle.“
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Geboren in Altenburg, Hauptschulabschluss, eine angefangene Ausbildung im Gartenbau, viele Brüche. „Ich habe falsche Entscheidungen getroffen“, sagt er. Er ging nach Gera, lebte dort mit seiner Freundin, machte sich abhängig von ihr, sie schmiss ihn raus. Mit der eigenen Wohnung hat es nicht geklappt. Seit etwa sechs Jahren hat er keinen festen Wohnsitz mehr.

Dieses Jahr saß Fabian sogar im Gefängnis. Ersatzhaft. Er konnte eine Geldstrafe nicht zahlen. Um die Schulden zu begleichen, arbeitete er in der JVA als Reinigungskraft, putzte Duschen, Toiletten, Werkstätten. Zwei Euro Stundenlohn. „Lächerlich“, nennt er das Gehalt.
Leipzig soll ein Neuanfang werden. Erst im Oktober kam er her. Altenburg und Gera hat er hinter sich gelassen. Auch wegen seiner Vergangenheit. Sein Vater starb im April, das Verhältnis war seit Jahren belastet. „Ich bin früh von zu Hause abgehauen“, erzählt er. Drogen und Alkohol spielten damals eine Rolle. Heute distanziert er sich davon.
Fabian ist Gamer, möchte programmieren lernen, im Webdesign arbeiten. Eine zweite Ausbildung kann er sich vorstellen. Er steht im engen Austausch mit seiner Bildungsberaterin. „Aber nichts ist sicher.“
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Wenn Fabian über Obdachlose spricht, wird er grundsätzlich. „Viele sehen uns als die unterste Schublade der Gesellschaft.“ Er kritisiert Räumungen und das Verscheuchen von Menschen. „Das löst keine Probleme, das ist Verdrängung.“
Wir sind Menschen.
Fabian
Wohnungsloser
Im Gegensatz zu Gera seien die Menschen in Leipzig offener. Die Polizei erlebe er sensibler. „Die reden mit dir, geben Tipps, und sagen nicht einfach nur ‚verpiss‘ dich!‘“
Gewalt bleibt dennoch ein Thema auf der Straße. Vor allem durch Jugendliche. Übergriffe, Beleidigungen. „Sie spucken auf uns, treten.“ Das macht ihn wütend. Ebenso die Regierung, von der er sich im Stich gelassen fühlt. Es brauche unbedingt Angebote, die auf die Bedürfnisse der Obdachlosen zugeschnitten sind. Legale Camps mit Toiletten und Duschen wären ein Anfang. Aber über allem steht: „Es braucht unbedingt bezahlbaren Wohnraum!“
Aktuell hofft er auf einen Wohnberechtigungsschein. Eine Einraumwohnung in Leipzig ist sein Wunsch. Dann will er wieder arbeiten, den Führerschein machen. „Darauf kann man alles aufbauen.“
Und an die Leipzigerinnen und Leipziger hat er eine Bitte: Nicht wegsehen. Nicht beschimpfen. „Wir sind Menschen.“ Lieber etwas zu essen oder zu trinken anbieten. „Es ist hart genug, wenn man behandelt wird, als wäre man nichts wert.“
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Fabian blickt in die Sonne, blinzelt. Er wirkt entschlossen. In Leipzig will er bleiben. „Wenn es hier klappt, wird es meine neue Heimat“; sagt er und lächelt.
Harald*, obdachlos: „Du hast ständig das Gefühl, nicht erwünscht zu sein“
Ein langer grauer Bart, dahinter ein verschmitztes Lächeln. Harald sitzt ruhig da, spricht gelassen mit trockenem Humor. Er ist Mitte 60, hat so einiges erlebt. Vor mehr als 20 Jahren kam er nach Leipzig. Seit etwa fünf Jahren lebt er auf der Straße.
„Ich habe hier gearbeitet, ganz normal gelebt“, sagt er. Dann kam die Arbeitslosigkeit. Es folgten Maßnahmen, befristete Tätigkeiten, Stress mit Ämtern, prekäre Verhältnisse. Eine Zeit lang arbeitete er in einem Sportstudio, inoffiziell als Physiotherapeut. „Das war Ausbeutung“, findet er. Die Zustände seien miserabel gewesen.
Was folgte, beschreibt Harald als zermürbenden Behördenalltag. Ständig neue Auflagen und Maßnahmen, Abfertigung. Weil er seinen Leipzig-Pass nur für zwei Monate bewilligt bekam, konnte er ihn nicht rechtzeitig verlängern. Er fuhr schwarz. „Das war reiner Stress.“ Die Behörden, sagt er, arbeiteten vor allem mit Druck und mit Schikanen.
Der entscheidende Bruch kam, als er seine Wohnung verlor. Nicht von heute auf morgen, sondern schleichend. Renovierungsvorgaben, Anträge, Fristen. „Ich hatte irgendwann keinen Bock mehr auf diesen ganzen Behördenkram“, sagt Harald. Er kümmerte sich nicht mehr – und verlor die Wohnung.
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Für ihn ist das kein individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Problem. „Ohne Arbeit keine Wohnung, ohne Wohnung keine Arbeit.“ Dieses Prinzip existiere seit Kaiserzeiten. „Wer einmal rausfällt, kommt kaum zurück.“
Ein großes Dankeschön an alle, die uns helfen!
Harald
Obdachloser
Harald spricht ruhig, überlegt, wenn es um Lösungen geht. Für ihn ist klar: Das Wichtigste sind Wohnungen „Es gibt keine Wohnungsnot in Leipzig“, sagt er. „Es fehlen die Ideen, die Bereitschaft etwas für die Bedürftigen zu tun.“ Seine zentrale Forderung: bezahlbare Wohnungen für alle. Dringend notwendig sei außerdem ein ordentliches Mietspiegelgesetz. „Das würde ich sofort einführen. Die Mieten sind explodiert. Das ist verrückt.“
Der Alltag auf der Straße sei geprägt von vielen Herausforderungen. Viele Stunden am Tag gingen allein dafür drauf, Essen zu organisieren. Tagestreffs seien wichtig und hilfreich. Der Bahnhof hingegen sei kaum auszuhalten. „Es stinkt nach Urin, überall Zäune.“ Sie würden aufgestellt, um Menschen zu vertreiben. „Du hast ständig das Gefühl, nicht erwünscht zu sein.“
Gleichzeitig erlebt Harald viel Hilfsbereitschaft. „Phänomenal“, nennt er das. Kleine Gesten, Gespräche, Unterstützung. „Ein großes Dankeschön an alle, die uns helfen!“, sagt er mit aufrichtiger Stimme.
Er betont, dass jeder Mensch auf der Straße ein Einzelfall sei. „Man kann uns nicht über einen Kamm scheren.“ Es brauche individuell angepasste Hilfen.
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Ein praktischer Ansatz wäre für ihn die Einrichtung von kostenlosen Schließfächern in Zentrumsnähe. „Damit du nicht dein ganzes Leben mit dir rumschleppst.“ Dass solche Lösungen bereits geplant sind, hält er für einen wichtigen Schritt. Auch könnte man das Wohnen in Kleingärten legalisieren. „Manchmal reichen kleine Lösungen.“
Harald denkt weiter. Er ist überzeugt, dass viele wohnungslose Menschen mit gezielter Unterstützung zu Fachkräften ausgebildet werden könnten. „Es gibt so viel Potenzial!“ Es brauche nur passende Programme.
Harald engagiert sich im Leipziger Peer-Projekt und bei „Timmi to Help“. Er unterstützt andere obdachlose Menschen, begleitet Gespräche, teilt seine Erfahrungen im Umgang mit Behörden. Harald weiß, wie schnell man den Überblick verlieren kann – und wie viel es bedeutet, wenn jemand zuhört.
Info: * Einzelne Namen der Menschen, die mit uns über ihre Situation gesprochen haben, wurden geändert.
LVZ