Leipzig. Sie werden mehr. Und sie werden sichtbarer, weil auch sie einen Platz brauchen. Zunehmend liegt der am gesellschaftlichen Rand. Weil Armut, Obdachlosigkeit und Verwahrlosung nicht im Sichtfeld einer Stadtgesellschaft liegen, schauen wir oft an ihnen vorbei. Warum ist das so?
Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Die Zahl von Menschen in Leipzig, die in Folge von Mietschulden, Schicksalsschlägen oder Suchtkrankheit, durch psychische oder wirtschaftliche Notlage ihre Wohnung verlieren oder kurz davor stehen, wächst rasant. Ein subjektiver Eindruck, der sich objektiv belegen lässt.
In der Innenstadt besonders. „Der Andrang bei uns ist deutlich gestiegen“, sagt Sophie Wischnewski, Leiterin der Bahnhofsmission am Leipziger Hauptbahnhof. „Aktuell verzeichnen wir täglich rund 230 Kontakte.“ Zum Vergleich: Im Herbst 2023 kamen täglich etwa 60 bis 80 Leute in die Räume der Caritas-Einrichtung.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Im Aufenthaltsraum der Bahnhofsmission haben maximal 20 Menschen Platz, der Bedarf ist deutlich höher. „Deswegen halten sich viele Besucherinnen und Besucher vor dem Eingang auf und holen sich einen Kaffee oder Tee ab“.
„Tafel“ nachgefragt wie nie
Auch im Leipziger Westen bei der Tafel macht sich der Trend bemerkbar. Leiterin Kristina Schulze spricht von einer durchgehend hohen Nachfrage. „Wir haben seit Längerem einen Aufnahmestopp.“ Deshalb sei auch die Warteliste aus Kapazitätsgründen eingestellt worden.

„Wenn wir mehr Lebensmittel gespendet bekommen, als für unsere angemeldeten Tafel-Kunden benötigt, geben wir an Personen mit Leipzig-Pass sogenannte Notpakete aus.“ Dieses Angebot werde viel genutzt und überbrücke das Warten bis zu einer Aufnahme.
Andrang in der Kontaktstube „Oase“
Wer die Wohnungslosenhilfe „Oase“ der Diakonie Leipzig in der Nürnberger Straße betritt, merkt: Hier ist richtig viel los. Fast jeder Stuhl ist mittags besetzt, es wird gegessen und gequatscht. Selbst draußen vor der Tür stehen und sitzen einige Menschen in der winterlichen Kälte. Täglich besuchen rund 100 Menschen die Kontaktstube.
Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Für Benjamin Müller, Leiter der Oase, ist die Einrichtung seit Jahren ein Gradmesser dafür, wie sich Armut und Wohnungslosigkeit in Leipzig entwickeln.
Müller geht etwa von einer Vervierfachung der Wohnungslosen in den letzten Jahren aus. „Die Gesamtzahl der Betroffenen steigt, sie werden jünger, psychisch labiler und internationaler“, sagt er. Das individuelle seelische Leid habe dabei deutlich zugenommen.

Aber es geht nicht nur um Obdachlose. Gleichzeitig kündige sich eine neue Welle an: Studierende suchten vermehrt Hilfe, weil sie in Leipzig keine Wohnung finden. Auch Familien gerieten unter Druck, weil bezahlbarer Wohnraum knapp ist. Armut sei längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.„Ich befürchte, dass wir nicht am Ende, sondern erst am Anfang dieser Entwicklung stehen“, prognostiziert Müller.
Eine wachsende Stadt und ihre Probleme
Woran liegt das? Die Ursachen lägen vor allem in der Entwicklung der Stadt. Leipzig wachse seit Jahren stark, die Infrastruktur zu langsam mit. Die Wohnraumreserven seien aufgebraucht.
Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Wie viele obdachlose und wohnungslose Menschen es in Leipzig gibt, sei nicht genau zu beziffern. Dennoch ließen sich klare Trends erkennen. Seit 2020 habe die Stadt ihre Notunterkünfte deutlich ausgeweitet, die Auslastung sei hoch. Auf Grundlage bundesweiter Statistiken, schätzt Müller, dass in Leipzig insgesamt knapp 4000 Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen sein könnten.
Die Gesamtzahl der Betroffenen steigt, sie werden jünger, psychisch labiler und internationaler.
Benjamin Müller
Leiter der „Oase“
Wie kann den vielen Menschen geholfen werden? Dass Wohnungslose oft als einheitliche Gruppe wahrgenommen werden, sieht Müller kritisch. „Alle über einen Kamm zu scheren, greift zu kurz“, sagt er. Die Unterschiede seien groß. Entsprechend müssten auch die Hilfsangebote vielfältiger werden. Nicht jeder wolle oder könne in eine klassische Gemeinschaftsunterkunft.
Wohnungslosigkeit finde vor allem in den Zentren statt, dort müssten auch passende Angebote entstehen. Langfristig sei der entscheidende Schlüssel jedoch klar: „Wir brauchen schnell und viel bezahlbaren Wohnraum.“
Sinn durch Beschäftigung
Auch bei der sozialen Sicherung plädiert Müller für ein Umdenken. Internationale Ansätze wie „Housing First“, bei denen Wohnraum bereitgestellt wird, hält er für sinnvoll. In Deutschland werde Armut vor allem über Geldleistungen bekämpft. Gerade bei psychisch belasteten Menschen beobachte er jedoch, dass Geld „nicht immer stabilisiert“. Eine Sachleistung wie Wohnraum könnten Verantwortung ermöglichen, ohne zu bevormunden.
Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wie kann den Menschen noch geholfen werden? Wichtig sei Beschäftigung. Viele Menschen litten unter Einsamkeit und dem Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Arbeit könne Sinn und Selbstwert zurückgeben, sagt Müller, auch jenseits des Geldes. Gelingen könnte das durch Kooperationspartner. Da denkt Müller an große Firmen, mit denen gemeinsame Projekte umgesetzt werden könnten. „Lehrlinge könnten unsere Klienten zum Beispiel in der Reparatur kleinerer elektronische Geräte ausbilden. Es käme zum sozialen Austausch und außerdem ist es auch noch nachhaltig.“
Soziale Einrichtung unter Druck
Die steigenden Obdachlosen-Zahlen bringen auch die Kontaktstube „Oase“ selbst an ihre Grenzen. Es fehle an Platz, Personal und finanziellen Mitteln. „Wir arbeiten seit Jahrzehnten auf der gleichen Fläche, aber der Bedarf steigt.“
Trotz aller Probleme beschreibt Müller Leipzig als solidarische Stadt. Gleichzeitig beobachte er mit Sorge, dass diese Haltung teilweise bröckele. Sein Appell richtet sich an die gesamte Stadtgesellschaft: Man dürfe soziale Gruppen nicht gegeneinander ausspielen.
Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Sein Weihnachtswunsch? „Wir müssen über soziale Grenzen hinweg im Gespräch bleiben und gemeinsame Lösungen finden.“ Nur so lasse sich verhindern, dass noch mehr Menschen durchs Raster fallen.
Heiligabend findet ein gemeinsames Weihnachtsessen in der Kontaktstube statt. Aber um allen wohnungslosen Menschen in Leipzig helfen zu können, ist mehr als ein Weihnachtswunder nötig. Es braucht politischen Willen und neuen Wohnraum.
LVZ