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Verteidigungsbereit ja, kriegstüchtig nein. Experten mahnen zu mehr Besonnenheit. Interview mit Politikwissenschaftler Johannes Varwick zur sicherheitspolitischen Debatte.
Sind die Bedrohungsszenarien in der Sicherheitspolitik übertrieben? Deutschland brauche Verteidigungsfähigkeit, aber keine Hysterie, schrieb Telepolis kürzlich zu einer Stellungnahme, die renommierte Experten verfasst haben. Ihr Titel: „Rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus“.
Die Experten aus Wissenschaft und Militär, darunter Dr. Michael Brzoska, Prof. em. Dr. Christian Hacke, Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb und Prof. Dr. Johannes Varwick, fordern dort einen Kurswechsel in der deutschen Sicherheitspolitik. Sie warnen sie vor einer überhitzten Debatte und mahnen zu einer nüchternen Bedrohungsanalyse, die auf Dialog und Diplomatie ebenso setzt wie auf Verteidigungsfähigkeit.
Sie kritisieren eine sicherheitspolitische Rhetorik, die Ängste schürt, und plädieren für eine ausgewogene Strategie zwischen Abschreckung und Verständigung.
Telepolis sprach mit dem Politikwissenschaftler Johannes Varwick über den falschen Kurs in der Sicherheitspolitik und die Debatte dazu.
Sicherheitspolitische Debatte in Deutschland ohne Maß und Mitte
▶ Prof. Varwick, Sie haben gemeinsam mit einer Reihe von Sicherheitsexperten die Stellungnahme „Rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus“ verfasst. Diese beginnt mit der Feststellung: „Die derzeitige sicherheitspolitische Debatte in Deutschland hat Maß und Mitte verlassen.“
Können Sie bitte zwei, drei Beispiele hierfür geben?
Johannes Varwick: Beispielsweise sieht mein Kollege Sönke Neitzel bereits den „letzten Sommer im Frieden“ und omnipräsente Stimmen wie die des Professors an der Bundeswehruni, Carlo Masala, trommeln seit Monaten für Aufrüstung und nennen bereits Termine, zu denen Russland angeblich die Nato angreifen werde.
Der Spiegel titelt diese Woche mit der Frage, ob wir bereit sind, unsere Kinder in den Krieg zu schicken.
Diese Aussagen beruhen auf keiner seriösen sicherheitspolitischen Analyse, sondern sind reiner Alarmismus. Begleitet wird all dies von einer besorgniserregend einseitigen Berichterstattung in den Medien, bei der abweichende Stimmen kaum noch vorkommen oder in eine Schmuddelecke geschoben werden.
Warum die Rede von „Kriegstüchtigkeit“ riskant ist
▶ Sie betonen in der Stellungnahme explizit, dass Investitionen in die Bundeswehr notwendig sind und erklären:
„Eine verteidigungsfähige Bundeswehr und eine Verbesserung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas sind unstrittig notwendig. Dazu gehören sinnvolle Investitionen in eine defensive Ausstattung der Streitkräfte, die abschrecken, aber nicht weiter das Sicherheitsdilemma verschärfen, sowie eine möglichst einheitliche europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“
Können Sie bitte ausführen, was Sie unter dem Sicherheitsdilemma verstehen und welche Gefahr dieses birgt?
Johannes Varwick: Zunächst einmal: Ich gehöre weder zur klassischen Friedensbewegung noch bin ich Pazifist.
Insofern bin ich für Verteidigungsfähigkeit, und das kostet auch Geld. Viele, auch der Verteidigungsminister reden aber nicht mehr von Verteidigungsfähigkeit, sondern wollen Kriegstüchtigkeit.
Und wer so redet, der verliert völlig aus dem Blick, was denn ein möglicher Gegner davon hält.
Das notwendige Maß an Sicherheitsvorsorge ist gewiss nicht einfach zu bestimmen. Aber ein Zuviel bedeutet in manchen Fällen nicht nur eine Vergeudung von Ressourcen, sondern mitunter gar eine Erhöhung von Risiken und damit der Unsicherheit.
Wer mithin überzieht, der kann Sicherheit in sein Gegenteil verkehren. Aufrüstung ist klassischerweise der Beginn einer Rüstungsspirale, die ohne politische Begleitung keine Sicherheit bringt.
„Nato in praktisch allen militärischen Belangen ungleich stärker als Russland“
▶ In der Stellungnahme heißt es:
Ohne Zweifel ist Russland eine Bedrohung für die europäische Sicherheit, und aggressive Absichten auch über die Ukraine hinaus sind nicht vollkommen auszuschließen – wenn auch hybride Bedrohungen plausibler sind als klassisch militärische. Ein nüchterner Blick auf die ökonomischen und militärischen Kapazitäten wie auch die (realisierbaren) Intentionen Russlands ergibt jedoch, dass wenig dafür spricht, dass Russland sich mit der Nato militärisch anlegen und deren Territorium angreifen könnte oder nur wollte.
Können Sie bitte näher ausführen, weshalb Ihrer Einschätzung nach „der derzeit verbreitete Alarmismus in Teilen der Politik und der Medien (…) nicht plausibel (ist) und (…) auf keiner seriösen Bedrohungsanalyse (basiert)“?
Johannes Varwick: Man muss zwischen Intentionen und Fähigkeiten unterscheiden. Ein nüchterner Blick auf die ökonomischen und militärischen Kapazitäten wie auch die realisierbaren Intentionen Russlands ergibt für mich, dass wenig dafür spricht, dass Russland sich mit der Nato militärisch anlegen und deren Territorium angreifen könnte oder nur wollte.
Ein Russland, das große Schwierigkeiten hat, seine Ziele in der Ukraine zu erreichen, ist in diesem Sinne eine beherrschbare militärische Bedrohung. Zudem ist die Nato heute und auf absehbare Zeit in praktisch allen militärischen Belangen ungleich stärker als Russland.
Dies gilt selbst dann, wenn man nur die Ausgaben bzw. die Ausstattung der europäischen Staaten inklusive Großbritannien addiert.
Ukraine-Krieg: „Wir sollten uns also an den Chancen beteiligen“
▶ Ein weiterer Aspekt der Stellungnahme lautet:
Die derzeitig verbreitete Panikstimmung, begleitet von einer gigantischen Verschuldung für Aufrüstung, löst aber Europas Sicherheitsprobleme nicht. Wichtiger wäre, den Krieg in der Ukraine mit Hilfe kluger politischer Kompromisse über Verhandlungen zu beenden.
Könnten Sie bitte skizzieren, welche Vorschläge Sie für politische Kompromisse zur Beendigung des Krieges sehen?
Johannes Varwick: Das ist nicht einfach, aber es wird nicht ohne die Bereitschaft zu Kompromissen gehen, die die Kerninteressen beider Seiten wahrt.
Bisher galt im Westen die sogenannte ukrainische Friedensformel – also keine Verhandlungen, solange Russland sich nicht aus der Ukraine zurückzieht, Reparationen leistet und gewissermaßen seinen Irrweg erkennt.
Die USA nehmen nun vernünftigerweise auch russische Interessen in den Blick, etwa in der Frage der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, die immer die rote Linie Russlands war. Ich will die russischen Sicherheitsinteressen nicht überbewerten und die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien, um sich gegen künftige Aggressionen wehren zu können.
Aber es muss eben um beide Seiten gehen. Wenn man das nicht in den Blick nimmt, kommt man nicht weiter. Das hat Trump erkannt. Alternative wäre, dass man erst nach einer russischen Niederlage in Verhandlungen eintritt.
Und wer so denkt, sollte ein Preisschild an die russische Niederlage kleben. Denn der Preis wäre ein Krieg gegen Russland oder eine Dauereskalation, bei der niemand gewinnen kann.
Wir sollten uns also an den Chancen beteiligen, die sich daraus ergeben, dass die USA gerade eine 180 Grad-Wende im Verhältnis zu Russland vollziehen. Die Europäer tun aber bisher so, also könne man den Kurs fortsetzen.
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„Resignation ist kein politisches Konzept“
▶ Ihre Stellungnahme endet mit der Forderung:
(Wichtiger wäre es ….), danach auf der Basis vorhandener Stärke eine Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur anzustreben, in der nicht nur Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern auch die zweite Säule der Sicherheitspolitik – Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen und Diplomatie – wieder eine zentrale Rolle spielen.
Die Charta von Paris wurde 1990 unterzeichnet, in der es u. a. heißt:
Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.
Wie könnte Ihrer Einschätzung nach eine zukünftige Sicherheitsordnung Europas in der Zukunft aussehen und welche Schritte sehen Sie, um in diese Richtung gehen zu können?
Johannes Varwick: Die Chancen dafür stehen bei Lichte betrachtet schlecht, aber Resignation ist kein politisches Konzept. Voraussetzung für eine Wiederherstellung einer halbwegs stabilen Sicherheitsarchietektur ist, dass der Krieg in der Ukraine ohne weitere Eskalation beendet wird.
Teil einer Lösung wird darüber hinaus eine Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur sein müssen, in der nicht nur Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern auch die zweite Säule der Sicherheitspolitik – Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen und Diplomatie – wieder eine zentrale Rolle spielen.
Darüber redet aber seltsamerweise niemand mehr. Die Zeit dafür drängt – Alarmismus und Panik führen in eine gefährliche Sackgasse.
Einseitige Debatte
▶ Wie waren die Reaktionen bisher auf Ihre Stellungnahme?
Johannes Varwick: Es gibt Kritik, teils sachlich, teils polemisch. Aber vor allem habe zahlreiche zustimmende Reaktionen bekommen. Vielen davon schmeckt die einseitige Debatte über die derzeitige Sicherheitspolitik nicht und sind froh, dass auch andere Stimmen Gehör finden.
Die 15 Kollegen, die die Stellungnahme verfasst haben, sind allesamt Fachleute mit jahrzehntelanger Erfahrung und Expertise im Bereich der Sicherheitspolitik und da funktioniert eben das üblich gewordene Spiel nicht, dass man Kritikern entweder die Kompetenz oder die lautere Absicht abspricht.
▶ Herzlichen Dank für das Gespräch!