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Der Management-Experte Tomas Casas erstellt Rankings zur Qualität von „Eliten“ in den Ländern der Welt. Er fordert eine neue Philosophie für Europa.

Kann man messen, wie gut politische und wirtschaftliche „Eliten“ arbeiten? Und ist es überhaupt noch angemessen, das Wort „Eliten“ zu verwenden? Tomas Casas i Klett hat zu beiden Fragen eine klare Antwort. Sie lautet „Ja“. Casas forscht und unterrichtet an der Universität St. Gallen zu Internationalem Management. Eines seiner fortlaufenden Projekte ist der „Elite Quality Report“, ein Überblick über das Wirken von Politik und Wirtschaft in 151 Ländern. Das zugehörige Ranking, der EQx, birgt auch 2025 ein paar Überraschungen.

Eine KI-generierte Grafik zeigt Menschen in Anzügen vor Wolkenkratzern, in einem runden Fenster eingeklinkt Wissenschaftler Tomas Casas.Wissenschaftler Tomas Casas arbeitet an einer neuen „Eliten-Theorie“. © KI-generiert/HSG St. Gallen

Casas zieht dort beispielsweise eine sehr gemischte Bilanz für die Bundesrepublik: Die politischen Institutionen seien sehr gut, die kleinen und mittleren Unternehmen sogar Weltspitze, sagt er – das Problem liege bei den Eliten der Wirtschaftsriesen. Der Wissenschaftler hat aber auch ein größeres Anliegen, wie er im Gespräch mit dem Münchner Merkur von Ippen.Media erklärt: Er sieht Bedarf nach einer neuen „Erzählung“ für Europa und den Westen. Aufgeschrieben hat er seine Vorschläge im rund 900 Seiten starken Buch „Towards an Elite Theory of Economic Development“ (De Gruyter, auch kostenlos downloadbar). Er will also einer „Eliten-Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ entgegengehen. Um die Präsentation der abschließenden Lösung gehe es nicht.

Zu Unrecht schlechtes Image von „Eliten“? „So funktioniert die Gesellschaft“

Das Problem beginnt aus Casas‘ Sicht aber schon bei der Frage, wie man „Eliten“ betrachtet und wie man über sie spricht – in Deutschland zumeist negativ, meint er – so schilderten es ihm auch Gesprächspartner aus der Bundesrepublik. Schon die Idee der Existenz von „Eliten“ gelte eben als „elitär“, als undemokratisch. „Aber so funktioniert die Gesellschaft“, sagt Casas. „Eliten“, ob politisch, wirtschaftlich oder Wissens-Eliten, mit ihren Geschäftsmodellen „stehen an der Spitze der Hierarchien in unseren sozialen Systemen – und Hierarchien sind in der Natur wie in der Gesellschaft einfach eine sehr effektive Art, Informationen und Energien zu managen“.

Insofern müsse man das Phänomen neu betrachten. „Ja, es gab Eliten, die im marxistischen Sinn Arbeiter ausgebeutet haben. Aber ohne die industrielle Revolution würde unsere Lebenserwartung immer noch bei 35 Jahren liegen. Die Eliten des industriellen Zeitalters haben am Ende doch enormen Wert geschaffen“, betont Casas. Gefragt sei Optimismus gegenüber Fortschritt – aber auch die Möglichkeit für „neue“ Eliten, den Aufstieg zu schaffen. Denn nur Wettbewerb innerhalb des Elitensystems bewirke Erneuerung und größtmöglichen Wert. Eliten bildeten sich in nahezu jedem Land, Casas spricht von einem „ehernen Gesetz“. Was aber nicht bedeute, dass stets die Fähigsten Macht besäßen. Insbesondere dort, wo es keinen Austausch der Eliten (mehr) gebe.

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„Eliten-Zirkulation“ und die daraus hervorgehenden Konzepte von Macht und Wert sind auch zwei Grundpfeiler der Bewertung in Casas‘ Eliten-Qualitäts-Index. Der Gedanke: Gute „Geschäftsmodelle“ – jedes Elite-Geschäftsmodell beruhe auf Macht, die aus Wirtschaft („Money“), Politik („Might“) und Gesellschaft („Mind“) bezogen wird – mobilisieren menschliche, finanzielle und Wissens-Potenziale und schaffen damit mehr Allgemeinwohl, als sie Nutzen für sich abschöpfen. Schlechte Geschäftsmodelle vereinnahmen Wert für sich oder transferieren ihn nur. „Extraktion“ heißt das zweite, wenig wünschenswerte Szenario in diesem „Elite Quality“ Modell. Wobei es nicht um Schwarz und Weiß geht.

Einerseits werde nur dort Wert geschafft, wo nicht „extrahiert“ werde. Andererseits: „Man muss realistisch sein und akzeptieren, dass es extraktive Transfers geben muss, damit Wertschöpfung entsteht“, so Casas. Zu Beginn der menschlichen Zivilisation – als enorme Kapitalinvestitionen in Bewässerungssysteme erforderlich waren – und später während der industriellen Revolution in den Fabriken, hätten die Eliten der frühen Staaten und dann auch die Industriellen billige Arbeitskräfte benötigt, meint er. „War das eine übermäßige Ausbeutung oder waren diese Transfers für den Fortschritt der Menschheit notwendig? Das ist hart formuliert, aber die Frage nach dem richtigen Maß an Extraktion bleibt bis heute relevant.“ Casas meint: „Heute haben wir komplexe Geschäftsmodelle, ihr wertschöpferisches Potenzial ist riesig.“ Beispiele seien Clean Energy, gesundes Altern und Künstliche Intelligenz.

„Gerade Europa braucht jetzt neue Erzählungen, wenn wir wachsen und inklusiv sein wollen“

Die Frage dem Wissenschaftler zufolge: „Wie institutionalisiert man die notwendige Extraktion – oder auch nicht?“ Das ewige Dilemma laute: „Wer extrahiert, und wer schafft Wert, und beides im welchem Maße?“ Ein eindrückliches Beispiel seien die Sprachmodelle der KI, „die menschliche Sprache und Denken monetarisieren und sogar privatisieren“. Entscheidend sei, wie Macht genutzt wird. „Wir profitieren enorm von Google, Apple oder ChatGPT – aber kann man ihnen überhaupt noch den Rücken kehren?“ Ein mögliches „Nein“ an sich sei weniger problematisch als die Frage, ob die Anbieter ihre Macht für Wertschöpfung einsetzen – oder für Preissteigerungen, Überwachung und Urheberrechtsverletzung.

„Wir haben im 21. Jahrhundert noch keinen analytischen Werkzeugkasten, kein Gesamtnarrativ, das auf realistische Weise Technologie, Globalisierung, Gesellschaft oder Wirtschaft sowie ihr Zusammenspiel wirklich erklärt“, meint Casas. Im 20. Jahrhundert seien Faschismus, Kommunismus und Demokratie samt Liberalismus die entscheidenden Erzählungen gewesen. „Zum Glück haben die Eliten mit den richtigen Narrativen gewonnen, aber an KI oder Trump sieht man jetzt: Das reicht nicht mehr“, sagt Casas.

Dem Westen sei etwa unklar, warum China als autoritäres System so viel Wert schöpfe und dessen Firmen so konkurrenzfähig sind. Und in Europa fehle im Angesicht der Abwendung der USA ein eigenes Narrativ. „Noch schlimmer: Uns fehlt der Mut zu kreativer Zerstörung des Alten, es regiert kopflose, verwalterische Ermüdung“, meint er. „Im Vergleich zu amerikanischen oder chinesischen Wirtschafts- und Wissenseliten sind Eliten in Europa Angsthasen, die nicht in der Lage sind, selbst die Risiken unseres Zeitalters einzugehen“.

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Sein Appell: „Gerade Europa braucht jetzt neue Erzählungen, wenn wir gleichzeitig wachsen und inklusiv sein wollen. Eine neue philosophische Grundlage, die dann auch konkret der Politik, der Bildung oder der Finanzindustrie dient.“ Nötig sei ein umfassender neuer Ansatz. Aber viele alte Gedanken könnte man dabei durchaus wieder aufgreifen. Schon vor tausenden Jahren habe es „Jubeljahre“ gegeben, in denen Schuld und Schulden erlassen werden konnten. „Dieses in der Bibel enthaltene Konzept ist eines der Freiheit, nämlich die Möglichkeit, von eigenen Fehlentscheidungen loszukommen“, sagt Casas. „Ohne Wagnis gibt es keine Wertschöpfung – Eliten, aber auch ganz normale Menschen wie du und ich müssen wagen.“ Wichtig sei dann (ein regulierter) Weg zum Risiko und ein Ausweg aus dem Scheitern.

Das gelte besonders für Menschen jenseits der Eliten, wie er in seinem Buch schreibt: Jeder einzelne Mensch habe die Fähigkeit, Wert zu schaffen – wenn er Anreize dafür habe. In der heutigen deutschen Gesellschaft und allgemein in der europäischen Kultur werde den Menschen diese Fähigkeit, mutig zu sein, abgesprochen, so Casas – er hält das für eine „furchtbare“ Form der Entfremdung. „Ethik muss neu konzipiert werden – als Wertschöpfung“, lautet seine Forderung: „Durch die Eliten und in kleinerem, würdigen Maß durch jeden Einzelnen.“ (Quellen: Gespräch mit Tomas Casas, „Towards an Elite Theory of Economic Development/fn)