Geheimnisvolles Esslingen: Steht der schiefe Turm in Esslingen? Ein Mythos und was daran wahr ist Die Türme der Stadtkirche St. Dionys am Marktplatz waren schon immer „Wackelkandidaten“: Eine Postkarte aus der Zeit um das Jahr 1900 zeigt das Gotteshaus mit Löwenbrunnen, Passanten und einer Pferdekutsche. Foto: Stadtarchiv Esslingen

Die beiden Türme der Esslinger Stadtkirche St. Dionys sind durch einen Steg verbunden. Warum nur?

Die Geschichte klingt einfach zu gut. Der Steg zwischen den beiden Türmen der Stadtkirche St. Dionys am Esslinger Marktplatz soll eine äußerst wichtige Funktion gehabt haben: Der Übergang soll dem früher dort beschäftigten Turmwächter den schnellen Gang zum stillen Örtchen ermöglicht haben. Nur ein Gerücht?

Stadtarchivar Joachim Halbekann hält sich bedeckt. Der Türmer habe den Steg sicherlich genutzt. Ob es aber wirklich für den Toilettengang war, das könne er nicht bestätigten. Der evangelische Kirchenbezirk Esslingen ist auf seiner Homepage auskunftsfreudiger. Die damals noch zwei Durchgänge aus Holz seien um 1643 errichtet worden. Sehr zur Freude des Türmers: Der habe dadurch zwar ein Minus an Fitness, dafür aber ein Plus an Bequemlichkeit bekommen.

Die Stadtkirche St. Dionys am Esslinger Marktplatz birgt manche Besonderheit. Foto: Roberto Bulgrin

Besonders bequem lebte der Mann ohnehin nicht, denn er wohnte in keiner Riesenpenthousewohnung. Er und seine Familie mussten sich in ein aus zwei kleinen Stuben bestehendes Höhenappartement im Südturm der Stadtkirche zwängen. Für Sanitäranlagen war kein Platz mehr. Die Toilette befand sich im Nordturm. Der Gang dorthin konnte sich als durchaus mühsam erweisen. Laut evangelischer Kirche mussten 200 Stufen hinunter von der Wohnung und dann wieder hinauf zur Toilette schweißtreibend erklommen werden. Dank der zunächst zwei Übergangsbrücken wurde es einfacher: Über den Holzweg sausen – und das WC war erreicht.

Die zunächst zwei Übergangsbrücken waren auch Sicherheitsfaktoren

Doch der Steg war nicht nur für die dringenden Bedürfnisse des Türmers von St. Dionys und seiner Lieben gebaut worden. Joachim Halbekann verweist darauf, dass die Durchgänge auch mit Blick auf die Statik errichtet wurden: „Die Türme haben doch immer nur Ärger gemacht. Sie waren zu hoch und der Untergrund zu schwach.“ Die Verbindungsbrücken sollten daher auch für mehr bauliche Sicherheit sorgen.

Die Türme als ständiges Ärgernis. Immer wieder mussten sie stabilisiert werden. Als der Nordturm vom Einsturz bedroht war, sagt Joachim Halbekann, wurde sein nördliches Untergeschoss nach 1437 verstärkt. Eine 13 Meter hohe und 60 Zentimeter dicke Verbauung entstand zu Sicherungszwecken. Doch dieser Bauteil war nicht von Dauer. Er musste dem späteren Stufenportal im spätromanischen Stil weichen. Der Südturm von St. Dionys wäre ebenfalls fast zum schiefen Turm von Esslingen geworden. Im Laufe der Jahre driftete er um 56 Zentimeter nach Süden. Um ihn besser im Gleichgewicht zu halten, wurden die beiden Holzbrücken laut Joachim Halbekann ab 1643 eingebaut. Ketten in den Verbindungsstegen sollten zusätzlich das aufrechte Stehen der Türme sichern. Bis in alle Ewigkeit hielt auch diese Baumaßnahme am Gotteshaus nicht. Die untere der beiden Brücken wurde 1859 entfernt. Der obere Steg wurde um 1900 durch eine Stahlkonstruktion ersetzt, die mit Holz verkleidet war.

Im Sommer 2024 wurde der Verbindungssteg zwischen den beiden Türmen von St. Dionys auf Vordermann gebracht. Foto: Robin Rudel Ein grünes Netz wurde zwischen den beiden Türmen gespannt

Doch auch an diesem verbleibenden Verbindungssteg nagte der Zahn der Zeit. Im Juli und August 2024 wurde er saniert. Wagemutiger Kletterer einer Spezialfirma hatten sich in luftigen Höhen an die Restaurierung der Übergangsbrücke gemacht. Ein grünes Netz war zum Erstaunen vieler Schaulustiger aufgespannt worden. Es war aber kein Sicherheitsnetz für die couragierten Facharbeiter, in das sie sich im Notfall wie Artisten am Trapez hätten fallen lassen können. Die Maßnahme sollte Passanten vor möglicherweise während der Bauarbeiten herabfallender Gegenstände schützen. Passiert ist aber nichts. Doch die Verantwortlichen hoffen nun, dass die Türme in den nächsten Jahren keinen Ärger mehr machen.

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