Die Zeit scheint still zu stehen für diese zwei Menschen. Er, ein junger Mann mit lockigem Haar, legt seinen Arm um eine Frau, zieht sie zu sich und drückt seinen Mund auf den ihren. Sie legt den Kopf zurück und erwidert den innigen Kuss. Im Vordergrund ist ein Cafétisch zu sehen, im Hintergrund das Pariser Rathaus. Nach dem Gebäude ist das berühmte Schwarz-Weiß-Foto von Robert Doisneau aus dem Jahr 1950 auch benannt: „Der Kuss vor dem Hôtel de Ville“. Ein Sinnbild für Leidenschaft, Liebe und Romantik. Und für Paris.
Das Werk gibt es gedruckt auf Postern, Tassen oder Postkarten. Es gehört zu jenen Bildern, die einen weltweiten Mythos mit gebildet haben: jenen von Paris als Stadt der Liebe. Frankreichs Capitale gilt als romantischste aller Metropolen und zieht jedes Jahr Millionen Verliebte an, die hier ihre Zweisamkeit zelebrieren. Sie steigen auf den Eiffelturm, umschlingen sich an den Ufern der Seine, schlendern Hand in Hand durch den Tuilerien-Garten. Manche besuchen die Cabarets und erotisch angehauchte Shows wie im „Moulin Rouge“ oder dem „Crazy Horse“.
Im „Jules Verne“ vergeht kaum ein Essen ohne Heiratsantrag
Andere, so wie Firmin und Élisa, flanieren eng aneinander geschmiegt die strahlend beleuchtete Pracht-Avenue Champs-Élysées entlang. Er kommt aus einer Vorstadt, sie aus den französischen Alpen und besucht ihren Freund. „Überall in Paris trifft man auf schöne Plätze, Straßen, Gebäude und was ist besser, als das mit seiner Liebsten zu teilen“, sagt Firmin und untermauert seine Worte mit einem Kuss für Élisa. „Mit all den Lichtern in der Adventszeit ist es noch romantischer“, ergänzt sie.

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Firmin und Élisa, flanieren eng aneinander geschmiegt die strahlend beleuchtete Pracht-Avenue Champs-Élysées entlang.
Foto: Birgit Holzer
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Firmin und Élisa, flanieren eng aneinander geschmiegt die strahlend beleuchtete Pracht-Avenue Champs-Élysées entlang.
Foto: Birgit Holzer
Im „Jules Verne“, dem Sterne-Restaurant im zweiten Stock des Eiffelturms, vergeht kaum ein Mittagessen oder Dinner ohne Heiratsantrag. Mal verlaufe das ganz diskret, mal so richtig Hollywoodfilm-tauglich mit Kniefall und Ring unter der Servier-Glocke, verriet der frühere, langjährige Service-Chef, Francis Coulon. Ab und zu, sagte Coulon mit einem feinen Schmunzeln, gebe es auch mal eine Abfuhr für den Mann; denn es sind fast immer Männer, die hier auf 125 Metern Höhe über Paris um ein Jawort werben. „Dann bleibt er alleine mit der Rechnung zurück.“ Auch Enttäuschungen gehören zur Liebe.
Das Tourismusamt bietet romantische Führungen durch Paris an
Die britische Männer-Bekleidungsmarke Charles Tyrwhitt ließ 2022 eine Studie über die Frage anfertigen, welche europäische Stadt ideal für einen Heiratsantrag sei. Mit einbezogen wurden die Architektur, romantische Restaurants sowie Hotels. Paris landete auf dem ersten Platz vor London und Madrid. Rund ein Viertel der Urlauber sind hier als Paar unterwegs.

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Im „Jules Verne“, dem Sterne-Restaurant im zweiten Stock des Eiffelturms, vergeht kaum ein Mittagessen oder Dinner ohne Heiratsantrag.
Foto: Birgit Holzer
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Im „Jules Verne“, dem Sterne-Restaurant im zweiten Stock des Eiffelturms, vergeht kaum ein Mittagessen oder Dinner ohne Heiratsantrag.
Foto: Birgit Holzer
Etliche Orte greifen das Label von der „Stadt der Liebe“ auf. Das „Love Hotel Paris“ hat thematische Zimmer für Pärchen, vom „Siebten Himmel“ bis zu „Unterwerfung“. Interessierte können eine „romantische Dekoration“ dazu buchen oder Sexspielzeug ausleihen. Das städtische Tourismusamt, das sich vor wenigen Jahren vielsagend in „Paris Je t’aime“ umbenannt hat, bietet „romantische Führungen“ an – ob zu versteckten Gärten oder „auf den Spuren berühmter Paare“ wie König Henri IV. und seinen Mätressen oder Napoléon und seiner Frau Joséphine de Beauharnais. Urlauber können Fahrten in einer Ente buchen, die angesichts des eher stressigen Pariser Stadtverkehrs nur vermeintlich romantisch-entspannt sind. Am Valentinstag überbieten die Restaurants einander mit „Menüs für Verliebte“ und die Floristen machen an diesem einzigen Tag rund zehn Prozent ihres Jahresumsatzes.
Die Verführung ist untrennbar mit Paris verbunden
Tatsächlich basiert der Ruf als „Stadt der Liebe“ nicht auf einer cleveren Marketing-Idee der vergangenen Jahrzehnte, sondern reicht viel weiter zurück. Eine wichtige Rolle spielte die Kunst- und Kulturgeschichte Frankreichs. Ob in der Malerei, der Literatur, der Musik, im Theater und Film, das Thema Liebe und Verführung ist präsent und untrennbar mit Paris verbunden. Im Buch „Der Glöckner von Notre-Dame“ hat Frankreichs National-Schriftsteller Victor Hugo eine der legendärsten Liebesgeschichten der Weltliteratur geschaffen, nämlich die Erzählung von der selbstlosen Verehrung des tauben Glöckners Quasimodo für die schöne Zigeunerin Esmeralda. Ähnlich verhält es sich mit dem „Phantom der Oper“ von Gaston Leroux, das in der Alten Oper, dem Palais Garnier, spielt. Schriftsteller wie Émile Zola, Guy de Maupassant oder Ernest Hemingway siedelten ihre Werke in Paris an. Und immer wieder ging es um große Gefühle.
Édith Piaf schmetterte hier ihre „Hymne à l’Amour“, die „Hymne an die Liebe“, heraus, die Céline Dion bei der Olympia-Eröffnungszeremonie 2024 in einem leidenschaftlichen Auftritt auf der Spitze des Eiffelturms interpretierte. Serge Gainsbourg und Brigitte Bardot, später ersetzt von Jane Birkin, hauchten und stöhnten hier ihren Klassiker „Je t’aime… moi non plus“.
Trotz der ganzen Romantik: In Paris leben besonders viele Singles
Die Nouvelle Vague entstand hier mit Filmen wie „Außer Atem“ („À bout de souffle“), später machte Woody Allen der Stadt mit „Midnight in Paris“ seine eigene Liebeserklärung. Auch der Klassiker „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zementierte das romantische Bild der französischen Hauptstadt. Etwas moderner, aber nicht weniger verklärt zeigt die populäre US-Netflix-Serie „Emily in Paris“ einem Millionenpublikum, dass die französischen Männer attraktive Liebhaber sind, während die Frauen die Kunst der Verführung perfektioniert haben. Im Schnitt finden laut Rathaus pro Tag zehn Dreharbeiten in den Straßen von Paris statt, ob für einen Film, eine Serie oder eine Werbung. Welche Stadt kann derart als Traum-Kulisse punkten, Sehnsüchte wecken?
Dabei gibt es einen harten Kontrast zur Realität. Die Boulevards sind von permanentem Autolärm geprägt. Die Anonymität und gleichzeitige Enge in der Stadt führen oft zu einem ruppigen Umgang miteinander. Zugleich ist Paris eben auch ein Ort der Freiheit, der viele Begegnungen ermöglicht. Hier leben besonders viele Singles: Laut nationalem Statistikamt Insee bestehen 44 Prozent aller Haushalte aus Einzelpersonen. In einer anonymen Befragung gaben die Stadtbewohner im Schnitt fast doppelt so viele Sexpartner an wie im restlichen Land: 19 gegenüber elf. Wer die Liebe dauerhaft findet, zieht zur Familiengründung oft weg.
Seit 2000 gibt es sogar ein Monument, das speziell den Liebenden gewidmet ist: Im Montmartre-Viertel steht die „Mur des Je t’aime“, die „Ich-liebe-dich-Mauer“ – ideal für Selfies. Vor den Olympischen Sommerspielen 2024 wurden die 650 Kacheln restauriert und von tausenden Namen gereinigt, um Platz für neue zu machen.
Der Ruf von Paris hat seinen Ursprung im 18. Jahrhundert
Ähnlich verhielt es sich mit den Liebesschlössern, die es in etlichen Souvenir-Läden zu kaufen gibt. Paare beschriften ein Schloss mit ihren Namen oder Initialen, hängen es an eine Brücke und werfen den Schlüssel in die Seine. Doch irgendwann wurde das tonnenschwere Gewicht der Schlösser zu einem ernsthaften Problem für die Stabilität der Brücken, vor allem für den Pont des Arts auf Höhe des Louvre. Seit 2014 geht das Rathaus dagegen vor, nicht mit Verboten, sondern es ließ die Schlösser entfernen und die Geländer aus Metallgitter mit glatten Glasplatten ersetzen. Hartnäckig tauchen die Schlösser weiterhin überall dort auf, wo sie sich hinhängen lassen.
Für den Soziologen Michel Maffesoli liegt der Ursprung für den Ruf von Paris als Stadt der Gefühle, der Verführung, aber auch des Spiels im 18. Jahrhundert. Unter dem einflussreichen Sonnenkönig Ludwig XIV. wurde sie nicht nur das Zentrum Europas hinsichtlich der Sitten bei Hofe und der Mode. Zu jener Zeit bildete sich auch die Komödie heraus, mit Autoren wie Molière, Racine und Corneille, und es entstand die sogenannte ‚libertinage‘, eine Form der Freigeistigkeit und körperlichen Freizügigkeit – zelebriert auf den Bühnen des französischen Hofs, erklärt der Spezialist. „Diese Strömung hat als Gegenbewegung zum moralisierenden Katholizismus die Französische Revolution 1789 vorbereitet, sogar mit ermöglicht.“
Deutschland ist das Land der Vernunft, Frankreich das der Sinnlichkeit
Die Tradition der Romantik im 19. Jahrhundert war in Frankreich besonders ausgeprägt, dank Dichtern wie Victor Hugo, Paul Verlaine und Arthur Rimbaud. „Sie spielten eine große Rolle in der Konzeption von Paris als romantischer Stadt par excellence“, erklärt der Soziologe. Am Fuß des Montmartre-Hügels gibt es sogar ein „Museum des romantischen Lebens“. Es legt einen Schwerpunkt auf die Schriftstellerin George Sand und den Maler Ary Scheffer, aber auch auf die Romantik in Europa allgemein.
Ab 1925 prägte dann der Surrealismus mit Persönlichkeiten wie Paul Klee, Pablo Picasso und Man Ray das Image von Paris weiter. Deutschland gelte als Land der Denker und der Vernunft, allen voran Immanuel Kant, während in Frankreich der Akzent auf der Sinnlichkeit liege, auf einer gewissen Leichtigkeit und Körperlichkeit. „Anders als in London dominierte in Paris nie die Wirtschafts- und Finanzwelt, sondern jene der Künste, der Gefühle, der Sinne“, sagt Maffesoli.
Der Montmartre steht für Freizügigkeit und Verführung
Freizügigkeit, Verführung – ein Stadtviertel steht dafür mehr als alle anderen: der Montmartre. An diesem kalten Samstagnachmittag hat sich Julie Maragné beim Kabarett Moulin Rouge mit seiner charakteristischen roten Mühle aufgestellt. Sie will eine Besuchergruppe bei einer „feministischen Stadttour“ durch diesen einst von Bill Ramsey in einem Schlager als „große Mausefalle“ besungenen Bezirk im Norden von Paris führen. Hier befindet sich eines der historischen Zentren für Sexarbeit. „Paris galt im 19. Jahrhundert als das ‚Bordell Europas‘“, erzählt sie. „Napoleon sorgte dafür, dass die Freudenhäuser gut kontrolliert waren, damit sich die Soldaten nicht mit der Syphilis anstecken.“ Heute seien Bordelle in Frankreich verboten, Prostitution gebe es aber weiterhin – auch in diesem Vergnügungsviertel, wo sich die Sexshops mit ihren rot blinkenden Aufschriften aneinanderreihen.
Mit Liebe hat das nichts zu tun, aber das pulsierende Pigalle-Viertel prägte jenen Ruf von Paris mit, so wie das Foto vom „Kuss vor dem Hôtel de Ville“. Die Aufnahme war übrigens keineswegs spontan, sondern eine Auftragsarbeit mit zwei Schauspielern. Das gab der Fotograf Doisneau erst Jahrzehnte später zu – zu schön war die Illusion einer perfekt in Szene gesetzten Liebe in der romantischsten aller Städte.
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Birgit Holzer
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