An Filmen zum Dauerbrenner-Thema Migration mangelt es nicht gerade, und auf den ersten Blick trägt auch „Souleymans Geschichte“ nicht unbedingt etwas wesentlich Neues bei. Bemerkenswert ist hier aber weniger, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird. Der Film handelt von Souleymane (Abou Sangare), der ohne Aufenthaltspapiere als Fahrradkurier Essen ausfährt und dabei nicht nur mit dem Pariser Straßenverkehr und launischer Kundschaft zu kämpfen hat, sondern auch mit der Ausbeutung durch die eigene migrantische Gemeinschaft.

Als wäre das nicht noch genug, wartet eine Anhörung auf ihn, bei der über seinen Asylantrag entschieden wird und für die er eine erfundene Biografie auswendig lernen muss. Druck und Stress an allen Fronten also – und der große Verdienst von Boris Lojkine ist es, eben diesen Stress mit einer punktgenauen Inszenierung erfahrbar zu machen. So spürt man den Druck, mit dem Menschen von einem unmenschlichen System geformt werden, zumindest für eineinhalb Stunden am eigenen Leib.

Souleymane (Abou Sangare) lernt in jeder freien Minute eine erfundene Biografie auswendig, um beim anstehenden Asyltermin eine Chance zu haben.

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Souleymane (Abou Sangare) lernt in jeder freien Minute eine erfundene Biografie auswendig, um beim anstehenden Asyltermin eine Chance zu haben.

Der aus Guinea stammende Souleymane (Abou Sangare) hat in seiner Heimat alles zurückgelassen, selbst seine Verlobte, um für ein besseres Leben nach Europa zu gehen. In Paris verdingt er sich als Fahrradlieferant für einen Lieferdienst, obwohl er während seines Asylverfahrens eigentlich nicht arbeiten darf. Deshalb kriegt er für seine Dienste auch nur einen kleinen Teil des eigentlichen Lohns, denn der benötigte Fahrer-Account in der Liefer-App ist von jemandem mit den nötigen Papieren teuer „geliehen“.

So hetzt Souleymane den ganzen Tag durch die trubelige Großstadt, um schlechtgelaunten Kunden pünktlich ihr Essen zu bringen. Abends muss er unbedingt darauf achten, trotzdem den letzten Bus zu seiner Notunterkunft zu kriegen, denn sonst droht ihm eine Nacht im Freien. Parallel dazu bereitet sich der Geflüchtete auf seine Anhörung beim Amt vor – eine erfundene Biografie und entsprechende Papiere hat ihm jemand aus seinem migrantischen Bekanntenkreis besorgt, der für seine Dienste allerdings Geld sehen will und deshalb zusätzlichen Druck macht…

Am äußerst Rande der Gesellschaft

„Souleymans Geschichte“ (der Protagonist heißt eigentlich Souleymane, aber der deutsche Titel spart das „e“ ein) setzt 48 Stunden vor der allen entscheidenden Anhörung an und taucht tief in die Welt des Protagonisten und damit nicht nur in die Welt papierloser Einwanderer, sondern ebenso in die Schattenseite der Essenslieferdienste ein. Diese haben in den letzten Jahren zwar aufgrund der miesen Arbeitsbedingungen immer wieder für Schlagzeilen gesorgt, aber selten hat man es derart eindrücklich miterlebt, was es eigentlich wirklich bedeutet, für ein paar Cent quer durch die Stadt zu hetzen.

Souleymanes Alltag ist ein einziges Rennen gegen die Zeit, seine Existenz ist auf Sand gebaut, selbst eine Banalität wie ein verpasster Bus kann existenzielle Folgen haben. Inszeniert ist das wie ein Thriller, dynamisch und rasant, die Kamera klebt fortwährend am Gehetzten, die permanente Anspannung des Protagonisten überträgt sich unweigerlich auf das Publikum.

Nur wenn er den letzten Bus erwischt, gibt es für Souleymane (Abou Sangare) einen Platz zum Schlafen.

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Nur wenn er den letzten Bus erwischt, gibt es für Souleymane (Abou Sangare) einen Platz zum Schlafen.

Souleymane bleibt dabei selbst in größter Hektik noch freundlich, bietet einem betagten Kunden sogar an, das gelieferte Essen zu schneiden. Er ist ein aufrichtiger Mensch mit einem großen Herzen, der seine Verlobte freigibt, damit die Daheimgebliebene mit einem um sie buhlenden Ingenieur in eine ökonomisch abgesicherte Zukunft starten kann. Souleymane tut sich schwer, die erfundene Biografie auswendig zu lernen – er ist kein Mensch, dem das Lügen leichtfällt, was zu einem eindrücklich gespielten „Showdown“ beim Amt führt. Dort erzählt er schließlich seine wahre Geschichte, die zwar noch dramatischer ist als die erfundene Version, aber wahrscheinlich nicht die richtige für eine Aufenthaltsgenehmigung. Statt uns aber ein Ergebnis in die eine oder andere Richtung vorzusetzen, reicht „Souleymans Geschichte“ die Entscheidung indirekt an das Publikum weiter.

Für Abou Sangare, den in Cannes preisgekrönten Hauptdarsteller, gab es dagegen ein vorläufiges Happy End: Der Film trug dazu bei, dass Sangare, der sieben Jahre vor dem Casting nach Frankreich kam, eine einjährige Arbeitserlaubnis erhielt. Wobei der 24-Jährige, dessen persönliche Fluchtgeschichte mit ins Drehbuch eingearbeitet wurde, überraschenderweise nicht vorhat, seine erfolgreich gestartete Schauspielkarriere fortzusetzen, sondern lieber Automechaniker werden möchte. Schade ist das schon. Sangare, der zuvor keinerlei schauspielerischen Erfahrungen hatte, trägt mit einer authentischen Vorstellung, die auch in hochemotionalen Szenen ohne große Gesten auskommt, aber dennoch jederzeit greifbar macht, was in ihm vorgeht, maßgeblich dazu bei, dass der Film so gut funktioniert. Man kann sich schnell in Souleymane, in einen besonders gern von den Boulevardmedien als Schreckgespenst benutzen „Asylbetrüger“, hineinversetzen – was das Ende nur umso eindringlicher wirken lässt.

Fazit: Ein weiterer Film zum Thema Migration – aber was für einer: „Souleymans Geschichte“ macht den täglichen Überlebenskampf eines papierlosen Migranten als perfekt in Szene gesetztes und auf den Punkt gespieltes Sozialdrama, das sich über weite Strecken anfühlt wie ein Thriller, intensiv nachfühlbar.