Unzählige Tücher, Stofffteile und Hüte baumeln von der Decke und den Wänden, hier hängen bunte Kostüme, dort eine Gitarre und eine Schaukel, auf dem Boden liegen Schablonen aus Pappe verteilt – durch einen riesigen Spiegel wirkt der Raum wie verdoppelt. „Ich arbeite gerade an einem neuen Bühnenbild“, erklärt Justyna Koeke, als sie uns in den Wagenhallen im Stuttgarter Norden empfängt, und deutet auf die wild auf dem Boden verteilten Pappformen.

Justyna Koeke schaukelt in ihrem Atelier. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Das Laptop, das sie auf ihrem Schreibtisch mitten im Raum abgestellt hat, wirkt in dieser Kulisse fast wie ein Störfaktor. Gleichzeitig ist der Computer auch einer der wenigen Hinweise darauf, dass wir hier nicht in einer Märchenwelt, sondern im Atelier der Stuttgarter Künstlerin gelandet sind.

Nackt den Schwabtunnel abgeleckt

Ebenso kunterbunt wie ihr Arbeitsplatz beim Kunstverein Wagenhalle sind auch Koekes Ideen. Die 49-jähirge Stuttgarterin, die ursprünglich aus dem polnischen Krakau stammt und seit 2000 im Ländle lebt und arbeitet, hält den Kessel mit Performances und wechselnden Kunstaktionen im urbanen Raum auf Trapp. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Eines ihrer stadtbekannten Projekte war etwa der Stuttgarter Nacktkalender, für dessen Bildinhalte sie gemeinsam mit einer Künstlergruppe auch schon mal nackt die Wände des Schwabtunnels im Stuttgarter Westen abgeleckt hat.

Doch Koekes Kunst ist weit mehr als nur nackte Haut. Bei ihren Projekten legt sich die Künstlerin nicht auf eine Kunstform fest, sondern experimentiert mit Performances, Skulpturen, Kostümen und Bühnenbildern. Häufig spielt sie dabei mit Rollenbildern und Klischees, setzt Weiblichkeit scheinbar banal und gleichzeitig plakativ in Szene, um feministische Botschaften zu vermitteln.

Die Message in der Kunst sichtbar machen

So zeigt sie in ihrem Projekt „Perioden“ etwa Blumensträuße in einer Vase, in der blutgetränkte Tampons schwimmen. „Auf der einen Seite ist das Symbol des Tampons so ein ausgelutschter Feminismus, auf der anderen Seite versteht das aber eben gleich jede und jeder“, erklärt Koeke. „Für mich ist es in der Kunst wichtig, dass die Message gesehen wird – da braucht man einfach Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen. Humor und Provokation sind solche Mittel.“

Humor und Provokation als Mittel zum Zweck

Und diese nutzt sie unter anderem für Sichtbarkeit und den Widerstand gegenüber dem Patriarchat, wie sie selbst sagt. „Ich bin eine Frau und deshalb beschäftigte ich mich natürlich damit. Wir leben noch immer in einer Gesellschaft, in der es nicht egal ist, welches Geschlecht man hat. Das beeinflusst unser Leben enorm – es nimmt Einfluss darauf, wie man sich bewegt und welche Träume man hat.“

Es werde Zeit, dass sich das endlich ändere, so Koeke. „Ich denke, dass man bestimmte Dinge normalisieren muss. Was Gleichberechtigung angeht, ist zwar schon viel passiert, trotzdem sind wir noch sehr von der Aufteilung in Geschlechter geprägt.“

Tinder-Dates im Wald als Performance-Projekt

Gleichzeitig will Koeke dem Thema mehr Leichtigkeit verleihen. „Ich gehe immer mit Humor an meine Projekte“, sagt sie, während sie auf der Schaukel in ihrem Atelier hin- und herschwingt.

Gemeinsam mit ihrer finnischen Künstlerkollegin Mimosa Pale lud sie so beispielsweise für das partizipative Performance-Projekt „Frauen im Wald“ Männer über die Dating-Plattform Tinder dazu ein, gemeinsam fotografische Bildwelten zu (weiblicher) Lust, Körper und Natur zu kreieren. „Ich will mit dieser Art von Kunst Dingen wie Sexualität die Schwere nehmen. In dem Tinder-Projekt haben wir nach anderen Bildern gesucht und die Männer haben ihre eigenen Ideen und Fantasien eingebracht – weg von dem schmutzigen Image, weg von Pornografie – wir wollten dem Thema Sexualität seine Natürlichkeit zurückgeben.“

„Sex sollte aus Lust passieren und nicht aus finanzieller Not heraus“

Während Koeke verschiedene Skulpturen in ihrem Atelier zeigt und wir Bildbände durchblättern, kommen wir auch auf das Thema Prostitution in Stuttgart zu sprechen – denn Bordelle und Sexarbeit im Leonhardsviertel bewegen nicht nur die hiesige Lokalpolitik. Auch die Künstlerin verarbeitet das Thema. Und das nicht nur in Kunst-Projekten, es betrifft sie in gewissem Maße auch direkt persönlich, schließlich passiert all das quasi vor ihrer Haustür. Die 49-Jährige wohnt selbst im Leonhardsviertel.

Künstlerisch positionierte sich Koeke bereits im Jahr 2017 klar gegen Prostitution in dem Stuttgarter Altstadtviertel, indem sie bei der Aktion „Ich bin kein Freier“ Männer dazu aufrief, sich im Video gegen gekauften Sex auszusprechen.

„Ich lebe gerne im Leonhardsviertel und finde es wunderschön. Für mich sind da eher die Dealer, die dort herumstehen unangenehm“, sagt Koeke. „Trotzdem ist die Prostitution ein Problem. Die Frauen müssen ja arbeiten und haben meist keine andere Möglichkeit, als der Prostitution nachzugehen. Als Frau sage ich: Man sollte alle Bordelle schließen, sie sollten überhaupt nicht existieren. Sex sollte aus Lust passieren und nicht aus finanzieller Not heraus.“

„Ich bin immer auf der Suche“

Doch auch wenn Feminismus und der Kampf gegen das Patriarchat sich in vielen von Koekes Arbeiten wiederfinden, legt sich die Künstlerin nicht auf nur ein Thema fest – im Gegenteil. „Ich wechsle häufig meine Themen. Ich bin immer auf der Suche“, sagt sie selbst und lacht.

Diese Suche sei für sie auch eine Art Selbstfindung. „Ich habe mir die Frage gestellt: Wie kann man mit der eigenen Arbeit wachsen? Über die Jahre habe ich mich total verändert und verändere mich immer wieder mit meinen Arbeiten. Das ist für mich das Spannende an der Kunst – man hat die Freiheit neue Themen zu wählen und sich neu zu erfinden.“

„Es gibt eine Menge, was ich noch nicht kann – zum Glück“

Während ihres Studiums der Bildhauerei und Keramik in Krakau, Nürnberg und Stuttgart habe sie beispielsweise gleichzeitig viel genäht und sich mit textiler Kunst beschäftigt. „Als ich dann mit Textilien gearbeitet habe, habe ich mich gleichzeitig mit Videoarbeiten auseinandergesetzt – mich interessiert also immer das, was ich nicht kann. Sobald ich etwas kann, fängt es an, mich zu langweilen“, sagt Koeke lachend. „Deshalb verändere ich die Inhalte meiner Kunst und die Materialien, mit denen ich arbeite. Es gibt eine Menge, was ich noch nicht kann – zum Glück.“

Kunst als internationale Sprache

Dennoch gibt es eine Konstante in Koekes künstlerischem Schaffen. Die 49-Jährige bewegt sich mit ihrer Kunst nicht in abgegrenzten Räumen von Museen oder Galerien, sie bringt ihre Projekte bewusst auf die Straße. „Ich bewege mich meist außerhalb des Kunstbetriebs im öffentlichen Raum. So komme ich mit den Leuten ins Gespräch“, erzählt sie.

Auch diese Gespräche stiften Inspiration für neue Aktionen, erzählt sie. So etwa bei einem Projekt in Chile, wo sie zuletzt viel Zeit verbracht hat. „Für meine Arbeit ,Verschönerungen’ war ich in der Atacama-Wüste auf einer riesigen Müllhalde unterwegs und habe den Müll dort als Skulpturen arrangiert und fotografiert – auch in der Stadt. Das Schöne war, dass die Leute erkannt haben, worum es mir dabei geht. Ich denke, dass, Kunst eine internationale Sprache spricht.“

Koeke will mit ihren Müll-Skulpturen auch auf das Thema Nachhaltigkeit aufmerksam machen, aber das nicht „moralisierend“ wie sie selbst sagt. „Deshalb versuche ich, die Kunst auf eine humorvolle, nahbare Weise rüberzubringen. So versuche ich beispielsweise Kunst dort entstehen zu lassen, wo die Materialien schon sind, wie beim Sperrmüll auf der Straße, oder ich recycle eigene alte Kunstwerke. Warum sollte ich eine neue Skulptur erfinden, wenn es schon so viele Skulpturen gibt?“

Spiel mit Kunst und Bewegung: Nicht selten steigt Justyna Koeke in ihrem Atelier auf eine Leiter, um mit Objekten zu experimentieren. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Ihre Inspiration für die Skulpturen gewinnt Koeke keineswegs nur in ihrem kunterbunten Atelier, denn die Natur hat es ihr als Inspirationsquelle angetan – vor allem deren Extreme.

Grenzerfahrungen im Gebirge als Inspiration

„Ich gehe gerne mit meinem Mann im Gebirge klettern und wandern, beispielsweise auf dem Matterhorn“, erzählt die Künstlerin. „Da ist die Luft auch mal dünn und der Körper reagiert darauf – man läuft wie in Slow Motion, alles ist langsamer und anstrengender – aber gerade das ist das Tolle – dass man körperlich und auch mental Grenzen überwindet“, schwämt Koeke. „In den Bergen finde ich so Inspiration – momentan mache ich sehr viele hängende Skulpturen und versuche, Kunst und Bewegung zu verbinden.“

Neben ihren Kunstprojekten arbeitet Koeke als Dozentin an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste (ABK) im Stuttgarter Norden. „Die Kombination aus meiner Arbeit in den Wagenhallen und an der Akademie funktioniert sehr gut“, sagt Koeke. „Ich fühle mich der Akademie sehr verbunden und mich inspiriert der Umgang mit jungen Menschen und gleichzeitig lerne ich etwas von ihnen – das ist sehr bereichernd“, sagt sie.

Kostüme für die Akademische Betriebskapelle

Wenn sie nicht gerade unterrichtet, spielt Koeke Bass bereits seit 2006 in der Akademischen Betriebskapelle der ABK. „Die Arbeit mit der Band hat meine künstlerische Entwicklung sehr geprägt“, sagt sie. Denn nicht nur mit dem Bass begleitet sie ihre Bandkolleginnen- und Kollegen, auch deren Kostüme entwirft Koeke.

Neben der Kunst ist auch die Musik eine ihrer Leidenschaften, die sie seit ihrer Kindheit pflegt. „Mein Vater war Musiker und Künstler, meine Mutter ist Bildhauerin. In Krakau bin ich mit fünf Schwestern aufgewachsen und in der ganzen Familie wurde viel musiziert und gezeichnet. Das hat mich natürlich sehr beeinflusst.“

Koeke: Mutterschaft verdient mehr Support

Koeke arbeitet bereits ihr ganzes Leben als Künstlerin, hat sich auch international einen Namen gemacht. Der Weg dorthin war für sie nicht immer einfach. „Als mein Sohn vor 25 Jahren geboren wurde, war es schon schwierig, das Künstlerinnendasein mit der Mutterschaft zu verbinden und gleichzeitig etwas aus der Zeit mitzunehmen, ohne nur hindurch zu hetzen“, erzählt sie. „Man will sich ja gerne darauf konzentrieren, aber das geht oft nicht, weil man sich um so viel anderes kümmern muss. Es ist schwierig, diesen Spagat zu schaffen“, so die heute 49-Jährige. „Ich war als frisch gebackene Mutter und gleichzeitig dabei, meine Karriere aufzubauen. Aber wann ist der beste Moment, um ein Kind zu bekommen? Eigentlich nie.“

Koeke wünscht sich deshalb mehr Unterstützung und Wertschätzung von Care-Arbeit leistenden seitens der Politik. „Ich habe immer meinen Partner gehabt, der mich unterstützt hat, das hat nicht jede und jeder.“

Ob sie von der Kunst heute leben kann? „Ich bewege mich sehr frei zwischen den verschiedenen künstlerischen Disziplinen – manchmal mache ich eine Ausstellung, dann ein Bühnenbild oder eine Performance“, erklärt sie. „Da meine Werke keine kommerziellen sind, kann ich sie nicht verkaufen. Daher mache ich auch viele Kooperationen mit Theatern und übernehme Aufträge, die dann Geld bringen.“

Mehr Raum für Stuttgarts Kunstschaffende

Durch ihre Arbeit an der Kunstakademie und als freie Künstlerin ist Koeke viel in der hiesigen Szene unterwegs und schätzt die Vielfalt. „Stuttgart ist im Vergleich zu anderen Städten eine gute Produktionsstelle und hier passiert viel – nicht nur in Bezug auf Kunst, auch was Theater und Konzerte angeht.“

Gleichzeitig sieht sie auch Nachholbedarf. „Ich würde mir dennoch wünschen, dass man den Kunstschaffenden in der Stadt mehr Raum gibt. Da ist noch Luft nach oben“, sagt Koeke. „Gerade hier an den Wagenhallen werden wir immer so beschnitten und uns werden Orte genommen – die Container City zum Beispiel musste wegen dem Bau der Interimsoper umziehen. Das ist sehr schade, denn die Container City war der alternative Ort, an dem Kunst- und Kulturschaffende tolle Projekte geschaffen haben.“

Nachholbedarf in der hieisgen Kunstszene

Viele ihrer Kolleginnen und Kollegen hätten dort Fuß gefasst, so Koeke. „Aber auch die Wagenhallen sind ein Ort, der mir viel gibt. Hier kommen die verschiedensten Künstlerinnen und Künstler aus allen Sparten zusammen.“

Wenn Koeke mal raus muss aus ihrem Atelier im Stuttgarter Norden trifft man sie am Teehaus im Weißenburgpark oder am Santiago-de-Chile-Platz am Haigst – und das nicht von ungefähr – die Künstlerin liebt das Reisen. Denn wie in der Kunst sucht sie auch im Leben immer nach neuen Erfahrungen. „Deswegen bin ich oft getrieben und will in Teile der Welt reisen, die ich noch nicht kenne, um neue Dinge zu sehen und neue Menschen zu treffen und mich davon inspirieren zu lassen“, so Koeke.

„Ich hoffe, auch dieses Jahr nochmal nach Chile reisen und dort Kunst machen zu können. Ich war dort vor zwei Jahren bei einer Biennale dabei und versuche, die professionellen Kontakte zu vertiefen.“ Justynas Koekes Suche ist also noch lange nicht zu Ende.

Dieser Text erschien das erste Mal am 8. Mai 2025.