Starkregen, Blackouts, Pandemien: Das Institut der Feuerwehr Nordrhein-Westfalen bildet Krisenstäbe für den Ernstfall aus. Die Nachfrage ist groß – und zu lernen gibt es hier einiges, wie ein Besuch zeigt.
Die Hiobsbotschaften kommen im Minutentakt: unterspülte Bahngleise, austretendes Ammoniak an der Bobbahn, Einschränkung der Trinkwasserversorgung, überflutete Krankenhäuser. Kurzum: Land unter im Hochsauerlandkreis. Um 8.57 Uhr dann die nächste Unwetterwarnung: Niederschlagsmengen von 90 bis 120 Milliliter pro Quadratmeter werden im Tagesverlauf erwartet. Der Krisenstab ächzt.
Etwa 20 Verwaltungsmitarbeiter proben beim Institut der Feuerwehr (IdF) NRW an diesem Morgen den Ernstfall. Deutschlands größte Feuerwehraus- und Fortbildungseinrichtung bereitet am Hauptsitz in Münster die Krisenstäbe des Landes – von der Landesregierung über die Kreise bis zu den kreisfreien Städten – auf Katastrophen jeder Art vor. Die Nachfrage ist groß: „Nicht jede Gebietskörperschaft, die dieses Jahr üben will, bekommt auch einen Platz“, sagt IdF-Referent Marc-Oliver Krieger.
Extremwetterereignisse und eine veränderte Bedrohungslage in Europa erhöhen den Bedarf für Übungen dieser Art. Spätestens seit der Corona-Pandemie und der Hochwasserkatastrophe 2021, etwa im Ahrtal, sei die Bedeutung der Krisenstabsübungen den verantwortlichen Oberbürgermeistern und Landräten sehr bewusst geworden. Rund zehn solcher Übungen bietet das IdF NRW neben Seminaren und Lehrgängen zur Qualifizierung von Führungs- und Spezialkräften der Feuerwehr pro Jahr an.
Aktuell werden neue Lehrräume und Unterkünfte gebaut, um die Kapazitäten des 230 Mitarbeiter starken Instituts zu erweitern. „Starkregenereignisse, Blackouts und Energiemangellagen, Pandemien – das sind Szenarien, auf die sich viele vorbereiten“, weiß Übungsleiter Marc Hübner. Der IdF-Dozent für Krisenmanagement und Führung hat die Simulation für den Hochsauerlandkreis entworfen. Er drückt einen Knopf auf der Computertastatur und das Arnsberger Stadtgebiet färbt sich rot: Stromausfall. 15.000 Menschen sind betroffen.
Der Krisenstab des Hochsauerlandkreises bespricht sich im Dreiviertelstundentakt: Lage erfassen, Probleme priorisieren, Arbeitsaufträge an die zuständigen Behörden verteilen. Welche Alten- und Pflegeheime, welche Kitas und Schulen sind vom Hochwasser betroffen? Wie informieren wir die Bevölkerung? Wer hat bei der Notstromversorgung Priorität? Die Aufgaben sind komplex.
Geübt wird so realistisch wie möglich
In NRW gilt laut Erlass des Innenministeriums: Sobald „ein über das gewöhnliche Maß hinausgehender hoher Koordinations- und Entscheidungsbedarf besteht“, beruft der Landrat oder Oberbürgermeister einen Krisenstab ein. Das ist bei Großeinsatzlagen oder Katastrophen der Fall, aber zum Beispiel auch, wenn mehrere Fachämter zur Bewältigung einer schwierigen Aufgabe zusammenarbeiten müssen. Mitarbeiter aus den Bereichen Medienarbeit, Sicherheit und Ordnung, Feuer- und Katastrophenschutz, Umwelt, Gesundheit und Soziales sitzen in der Runde immer mit am Tisch. Der Hochsauerlandkreis hat auch einen Vertreter des örtlichen Energieversorgers und des öffentlichen Personennahverkehrs dabei.
Aus dem Nebenraum verschicken Hübner und sein Kollege Daniel Langer Alarmdepeschen und Notfallmeldungen, die bis hin zum Briefkopf täuschend echt wirken. Ihr Telefon steht kaum still. Die beiden Feuerwehrbeamten mimen hier den „RdW“, den Rest der Welt also, damit die Teilnehmer der Übung nicht aus dem stressigen Geschehen heraus wirklich bei Krankenhäusern, Bezirksregierung oder Innenministerium anrufen.
„Hallo? Es geht um Wachkomapatienten. Die können hier nicht bleiben. Das Dach ist weggeflogen“, ruft Hübner als vermeintlicher Leiter einer Pflegeeinrichtung aufgeregt ins Telefon. Für die Mitglieder des Krisenstabs soll die Übung so realistisch wie möglich sein. Die überfluteten Schulen und Krankenhäuser, die abgerutschte Altdeponie und das abgeschaltete Elektrizitätswerk neben der Ruhr – all das sind real existierende Orte. „Das setzt Stresshormone frei“, weiß Hübner.
In NRW setzt man auf ein Zweistabsmodell
Ziel des dreitägigen Seminars ist es, Verwaltungsmitarbeiter, die nicht für solche Extremsituationen ausgebildet sind, mit einem Szenario zu konfrontieren, in dem sie mit dem normalen Verwaltungshandeln nicht weiterkommen – und trotzdem eine schnelle Gefahrenabwehr gewährleisten müssen. In NRW kommt dabei ein Zweistabsmodell zum Einsatz, mit dem administrativ-organisatorischen Krisenstab auf der einen und der operativ-taktischen Einsatzleitung – der „Blaulichtfraktion“ aus Feuerwehr, Hilfsorganisationen und THW –, auf der anderen Seite.
„Die Städte und Kreise müssen eine Katastrophenschutzplanung machen. Wir bieten den Check: Funktioniert diese Vorplanung?“, sagt Hübner, der seit über 30 Jahren Feuerwehrmann ist. Grundsätzlich sei die Arbeit der Krisenstäbe gut, „hier und da decken wir aber immer Punkte auf, die Optimierungspotenzial haben“.
Zwei Etagen höher ist die Einsatzleitung der Stadt Essen mit einem fiktiven Flugzeugabsturz beschäftigt, auch hier muss ständig etwas neu koordiniert werden. Die Stimmung: angespannt. Im Übungsraum des Hochsauerlandkreises hingegen entspannt sich derweil die Lage. Die Wachkomapatienten können evakuiert werden. Der Pressesprecher hat sich im fingierten Fernsehinterview gut geschlagen. Hübner und seine drei Kollegen, die die Übung betreut haben, sind zufrieden.
NRW hat bundesweit eine Vorreiterrolle eingenommen
„Aber in den Köpfen der Bevölkerung ist noch nicht angekommen, dass auch sie sich vorzubereiten und zu informieren hat. Dafür müssen wir sensibilisieren“, warnt der Krisenexperte. Auf professioneller Ebene sieht das IdF NRW Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland für den Ernstfall dagegen gut aufgestellt, seitdem Anfang der 2000er-Jahre Bereitschaften im Katastrophenschutz eingeführt wurden – vom Sanitätsdienst über die Feuerwehr bis zur Wasserrettung.
Dank dieser sogenannten vorgeplanten überörtlichen Hilfe könnten größere Einheiten bei Bedarf sogar im ganzen Bundesgebiet unterstützen, ohne dass die Versorgung vor Ort darunter leide. „NRW hat da vor 25 Jahren eine Vorreiterrolle eingenommen, weil es das in anderen Bundesländern nur in abgeschwächter Form oder gar nicht gab“, so Hübner. „Jetzt stehen wir vor neuen Herausforderungen und müssen uns – mit einem Krieg in Europa – im Bevölkerungsschutz auch auf andere Szenarien, wie hybride Angriffe, vorbereiten.“
Die Landesregierung hat den Umgang mit einer solchen Cyberattacke zuletzt 2023 mit Unterstützung des IdF NRW geprobt – und könnte auch unabhängig von der veränderten Bedrohungslage bald für eine weiter steigende Nachfrage nach Krisenstabsübungen aller Art sorgen: Teil der im schwarz-grünen Koalitionsvertrag vereinbarten Reform des Gesetzes über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz könnte eine neue Vorschrift werden, nach der alle 396 Städte und Gemeinden in NRW künftig in das Krisenmanagement einbezogen werden.
Mona Contzen