Kurz vor dem ersten offiziellen Termin des Bundespräsidenten bei der Nato geht die Eilmeldung über die Ticker: Der Kreml ruft eine einseitige Waffenruhe in der Ukraine für Anfang Mai aus. Russlands Präsident Wladimir Putin will das Töten seiner Truppen vom 8. bis 10. Mai in dem von ihm angegriffenen Land pausieren – während Russland dem Sieg über Nazi-Deutschland vor 80 Jahren gedenkt.

Frank-Walter Steinmeier geht auf diese wohl eher symbolische Feuerpause nicht ein, als er im Nato-Hauptquartier eine Rede anlässlich 70-jähriger Nato-Mitgliedschaft Deutschlands hält. Er will etwas Grundsätzliches sagen zur Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, zum Schulterschluss in schwierigen Zeiten in der Nato. Steinmeier richtet hier, im Nato-Hauptquartier, eine unmissverständliche Botschaft auch ans eigene Volk zu Hause: Die Aufrüstung Deutschlands bezeichnet er als dringendstes politisches Projekt für die kommenden Jahre. „Ich bin überzeugt: Die wichtigste Aufgabe der neuen deutschen Regierung ist es, unsere Bundeswehr zu stärken“, sagt Steinmeier in der riesigen, kalt-grauen Halle des bogenförmigen Gebäudes. Ein schlecht gerüstetes Deutschland sei die größere Gefahr für Europa als ein stark gerüstetes Deutschland. „Ich denke, praktisch alle unsere Verbündeten sind schon lange zu dieser Überzeugung gelangt – für uns Deutsche ist dieser Satz viel schwerer zu akzeptieren“, sagt Steinmeier. Er hoffe, dass dies in Anbetracht der deutschen Geschichte verständlich sei. Dennoch fordere er seine Landsleute dazu auf, sich dieser neuen Realität zu stellen, so Steinmeier.

Die Sicherheitslage habe sich geändert, erklärt Steinmeier mit Blick auf Russlands Aggression und die neue US-Politik unter Präsident Donald Trump. „Deutschland wird gerufen, und wir haben den Ruf gehört. Wir haben verstanden. Ihr könnt auf uns zählen“, sagt er. Angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und zu einer Zeit, in der „die USA ihre europäischen Verbündeten enorm unter Druck setzen“, komme Deutschland eine „Schlüsselrolle“ in der Nato zu, sagt er.

Vor Steinmeiers Rede hatte Nato-Generalsekretär Mark Rutte das deutsche Nato-Engagement gelobt. Die Bundesrepublik leiste bedeutende Beiträge zur gemeinsamen Sicherheit – unter anderem mit der Stationierung von Truppen an der Ostflanke, Kampfjets, die den Himmel über dem Baltikum sicherten, und Schiffen, die wichtige Versorgungswege und kritische Infrastruktur in der Ostsee schützten. Es sei entscheidend, dass Deutschland seine Verteidigungsanstrengungen deutlich verstärke. Er würdigte die parteiübergreifenden Beschlüsse für deutlich höhere Verteidigungsausgaben.

Mitgeflogen nach Brüssel ist der noch amtierende und wohl künftige Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Auch er zeigt sich bei einem Empfang mit Nato-Vertretern entschlossen, Deutschlands Rolle in dem Verteidigungsbündnis auszubauen. Pistorius ruft die Nato-Partner auf, angesichts der russischen Bedrohung zusammenzustehen. Deutschland sei bereit für einen größeren Beitrag zur Verteidigung. „Deutschland hat die Verteidigungsfähigkeit zu einer Toppriorität gemacht. Deutschland wird einen Betrag in historischer Höhe in seine Sicherheit investieren“, sagt er. Dies sei auch eine Investition in die Sicherheit der Alliierten.

Doch zuletzt war von dieser deutschen Stärke auf der politischen Weltbühne nur wenig zu sehen. Durch die Ampel-Krise, die Neuwahlen und die noch laufende Regierungsbildung war Deutschland vor allem mit sich selbst beschäftigt. Wichtige Gespräche zu Friedensperspektiven in der Ukraine übernahmen von europäischer Seite vor allem Frankreich und Großbritannien. Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) trat kaum in Erscheinung, der wohl künftige Kanzler Friedrich Merz (CDU) ebenso wenig.

Diese akute politische Leerstelle fällt auf, auch in Brüssel bei der Nato. Und sie muss, so ist in Brüssel am Rande des offiziellen Programms überall zu hören, schnellstmöglich wieder gefüllt werden.

Denn das Bündnis befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden Umbruchprozess. Auslöser ist vor allem die Ankündigung der USA, künftig deutlich weniger sicherheitspolitische Verantwortung für Europa übernehmen zu wollen. So ließ US-Präsident Trump zuletzt mitteilen, dass sich die europäischen Alliierten künftig selbst um die konventionelle Verteidigung und Abschreckung des Kontinents kümmern sollen. Nur bei der nuklearen Abschreckung könnte demnach alles beim Alten bleiben.

Für die europäischen Alliierten bedeuten die Entwicklungen vor allem, dass sie massiv aufrüsten und deutlich mehr Geld für Verteidigung ausgeben müssen. Und so steht der Besuch von Steinmeier und Pistorius bei Rutte auch schon im Zeichen des Nato-Gipfels Ende Juni. Welche Investitionsziele werden dann beschlossen? Für welchen Zeithorizont? In den kommenden Wochen wird die noch amtierende und die neue Bundesregierung sehr viel mit desen Fragen beschäftigt sein. Ein symbolischer Waffenstillstand von wenigen Tagen in der Ukraine ist dafür unerheblich – das weiß man in Brüssel.