Mit acht Fremden sprach ich über meine Depression. Worte, an denen ich mich bislang verschluckte, fielen mir aus dem Mund. Den Unbekannten, die ich an diesem Tag erst zum zweiten Mal sah, erklärte ich, wie sich das anfühlt, das Bett nicht verlassen zu können, oder warum ich eine Weile lang im Sitzen duschte.
Ich saß nicht in einer Gruppentherapie, sondern bei einem Buchclub in einem Restaurant in New York. Bei keinem anderen Hobby rede ich so darüber, wie es mir geht. Nicht beim Yoga, nicht beim Töpfern. Wer würde denn so was auch tun, während er oder sie sich im herabschauenden Hund positioniert oder Ton knetet? In einem Buchclub hingegen ergibt sich das offenbar einfach so. Das Gespräch mit den acht Fremden fühlte sich so persönlich an wie Telefonate mit meiner Schwester.
Reese Witherspoons “Literary Empire“
Dabei sollte es hier nur um einen Roman gehen, den wir alle gelesen hatten, um uns darüber zu unterhalten. Ein Buchclub eben. An dem Tag, an dem ich mich so öffnete, das weiß ich noch, habe ich ein Pastrami-Sandwich gegessen und eine Cola getrunken. An das Buch, das meine Offenbarung auslöste, erinnere ich mich nicht.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Solche Buchclubs boomen. Improvisiert im Freundeskreis, digital betrieben in den sozialen Medien und gerade dort besonders. Der Boom hat deswegen auch viel zu tun mit dem Booktok-Hype, der Verlage an eine Zukunft glauben lässt, in der junge Menschen richtig viel lesen. Der Popstar Dua Lipa hat einen eigenen Buchclub auf Youtube und spricht dort mit Stars, die lesen oder schreiben. Die Hollywood-Schauspielerin Reese Witherspoon ist mit ihrem Club so erfolgreich, dass die „New York Times“ von einem „Literary Empire“ geschrieben hat: Witherspoons monatliche Empfehlungen, ausschließlich von Autorinnen, sind inzwischen erfolgreicher im Buchhandel als die von Oprah Winfrey, die vor fast dreißig Jahren damit begonnen hatte, Bücher zu empfehlen, und Weltkarrieren auslöste. In Deutschland hatte die Tennisspielerin und Autorin Andrea Petkovic zeitweilig einen Club. Der deutsche Buchhandel entdeckt den Hype erst.
Aber es geht auch kleiner, nachbarschaftlicher. Meinen Buchclub, der sich jeden Monat in New York traf, hatte ich auf Instagram gefunden. Ich ging davon aus, ein paar neue Leute kennenzulernen, vor allem suchte ich Menschen, die mir die Stadt, in der ich nun lebte, näherbrachten. Was ich nicht erwartet hatte, war ein Seelenstriptease. Ausgelöst hatte den eine Romanfigur, die etwas Vergleichbares beschrieb. Wir sprachen in der Gruppe darüber, ob das gut oder nachvollziehbar beschrieben war. Als ich dazu aus eigener Erfahrung etwas beitrug, hörten alle am Tisch einfach zu. Einige kommentierten das oder fragten nach, aber nichts davon war unangenehm. Zwei Minuten später redeten wir schon über etwas anderes.
Beiläufig über Gefühle sprechen
Bei jedem Treffen fiel mir auf: Auch den anderen im Buchclub fiel es offenbar unglaublich leicht, sich zu öffnen. Da saßen eine Assistenzärztin, eine Finanzberaterin, eine Buchhändlerin und ein Typ, von dem ich keine Ahnung hatte, was er neben dem Lesen so macht. Beinahe alle gaben vermeintlich beiläufig Privates preis. Immer wieder ging es um tiefe Gefühle, Ängste, aber auch um Banales. Dieser Ort, den der Buchclub schuf, fühlte sich an wie ein Schutzraum. Umgeben von Sicherheit ließ jeder raus, was herauswollte. Aber wieso?
Letitia Asare, die den Buchclub bis heute leitet, sagt dazu: „Die Leute sind definitiv offener, über ihre Gefühle zu sprechen, wenn sie das mit einem Buch verknüpfen können.“ Spricht Asare nicht gerade mit anderen über Bücher, schreibt sie Rezensionen für ihren Account auf Instagram und für ein Onlinemagazin. Macht sie beides nicht, arbeitet sie als Marketingmanagerin für ein New Yorker Start-up. „Warum ein Buch dich fesselt oder warum du es nicht magst, basiert auf deinen eigenen Gefühlen und Erfahrungen. Jede Meinung, die du teilst, gibt einen Einblick in deine Persönlichkeit.“ Zudem könne man sich am Tisch mit den anderen Mitgliedern nicht verstecken. Man sei ja gekommen, um über das Buch zu sprechen – und das Sprechen über das Gelesene verknüpfe man mit dem eigenen Empfinden. In anderen sozialen Strukturen sei es viel einfacher, gar nichts über sich selbst zu verraten.
Für welches Buch entscheiden wir uns für den Lesekreis?picture alliance / imageBROKER
In einem wirklich guten Buchclub, so sieht es Letitia Asare, da müsse man teilen, was man über den Text und seine Figuren denkt. Besonders voll von eigenen Empfindungen waren die Gespräche dann auch, wenn es um das Innenleben einzelner Figuren ging. Als wir ein Buch über komplizierte Familiendynamiken lasen, sprach ein Mitglied dann auch offen über die problematische Beziehung zu seiner Mutter. „Die Romanfigur wird wie eine Krücke genutzt, um dann darüber zu sprechen, wie man sich selbst fühlt“, vermutet Letitia Asare. Was aber gut daran war: Jedes noch so tiefgehende Gespräch konnte man jederzeit wieder abbrechen, indem man so etwas sagt wie: „Kommen wir zurück zum Buch.“ Dann musste ich nicht näher auf meine Emotionen eingehen und konnte vom Seziertisch herunterklettern.
Ein Jahr später zog ich weg, mir fehlte meine kleine, Bücher liebende Blase aber schon beim Aussteigen aus dem Flugzeug. Also gründete ich in meiner neuen Heimat Zürich einen eigenen Buchclub. Jetzt kann ich aus der Schweiz bestätigen: Ein Lesezirkel ist auch hier ein Instrument, das selbst das schüchternste Mitglied zu persönlichen Enthüllungen bringt. Es sind unterschiedliche Leute, die bei mir zusammenkommen. Eine operationstechnische Assistentin, die Fantasyromane liebt, und eine Diplomatin, die am liebsten in Biographien versinkt. Es sitzen mehrere Journalistinnen beisammen, eine Sozialarbeiterin ist dabei und eine, die selbst Bücher schreibt.
Sind Lesezirkel Selbsthilfegruppen?
Wir lasen „Vatermal“ von Necati Öziri, einen Roman über das Leben eines Mannes, dessen Familie von der Türkei nach Deutschland emigrierte. Wir sprachen über die persönliche Migrationserfahrung eines Mitglieds. Vielleicht nicht etwas, was man ohne Weiteres regelmäßig mit Fremden bespricht. Wir lasen „Good Material“ von Dolly Alderton, einen Roman über einen gescheiterten Comedian in seinen Dreißigern, der von seiner Freundin verlassen wird. Fast jedes Mitglied gab sein schlimmstes Beziehungsende und andere Dating-Katastrophen zum Besten. Auch kein Thema, das man mit Menschen bespricht, die man gerade erst kennenlernt. Wir lasen „Auf allen vieren“ von Miranda July, einen Roman über eine Frau in der Perimenopause, die sich auf eine Reise begibt. Wir sprachen über unsere Ängste und Sorgen vor dem, was den mehrheitlich weiblichen Mitgliedern in meinem Buchclub bevorsteht. Auch darüber spricht man sonst ja selten mit Unbekannten.
Beziehungsprobleme, Ängste und das psychische Befinden: Alles Themen, die auch in der Psychotherapie aufkommen können. Sind Lesezirkel also Selbsthilfegruppen? „Nein, weder das Schreiben noch das Lesen ersetzt eine Therapie“, sagt Nicola Steiner, Leiterin des Literaturhauses Zürich. „Ich finde die Frage aber nicht abwegig. Über das Medium kommt man leicht in den Austausch über seine psychischen Befindlichkeiten.“ Aber Nicola Steiner hatte dann auch eine literaturkritische Erklärung für das Phänomen: dass nämlich seit einigen Jahren ein Boom des autofiktionalen Schreibens eingesetzt habe und nicht aufhöre.
In der Autofiktion verarbeiten Autorinnen und Autoren persönliche Erfahrungen im Text. Sie erzählen von sich selbst, kombinieren das Erlebte aber teils mit Erfundenem. Eine Art Versteckspiel. Was ist wirklich passiert, was nicht. Aber will man nicht genau das in jedem Buch herausfinden, das man liest? Auch in jenen, die ganz klar als fiktiv deklariert sind?
Die Literaturkritikerin und Literaturhaus-Leiterin Steiner sieht die Autofiktionsflut kritisch: „‚Wirklich passiert‘ oder ‚wirklich erlebt‘ ist oft eine Art Legitimation für die Echtheit des Textes. Man kann ergriffen sein von einem ‚echten Schicksal‘.“ Dabei gehe es bei Literatur aber doch weniger um Wahrheit oder Echtheit, als vielmehr um Wahrhaftigkeit – wahrhaftig im Sinne von: so wahrheitsgetreu wie möglich. Nicola Steiner erinnert daran, dass schon Vladimir Nabokov, der Autor von „Lolita“, erklärt hatte: „Literatur ist Erfindung. Romane sind Fiktion – etwas Vorgestelltes, Erdachtes. Eine Geschichte als wahr zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für Kunst und Wahrheit zugleich.“
Literaturkritik und persönliche Gespräche
Gerade das autofiktionale Schreiben könnte aber das identifikatorische Lesen auslösen oder verstärken, das so oft die Zungen im Buchclub löst. Die Autorenschaft will abbilden, die Leserschaft will etwas finden. Bücher öffnen Blickwinkel, ob sie einen selbst nun betreffen oder nicht. Im Lesezirkel kann man sich so sehr in Büchern spiegeln, wie man will. In meinem eigenen Buchclub würde ich niemanden aufhalten, das zu tun, deswegen mischen sich auch dort Literaturkritik und persönliche Gespräche.
„Zu einem Buchclub kommt man ja auch, weil man sich eher freundschaftlich austauschen will“, sagt Nicola Steiner, die neun Jahre lang die Sendung „Literaturclub“ im Schweizer Fernsehsender SRF moderiert hat. „Ich würde dann wissen wollen: Wie steht ihr dazu? Seht ihr euch in dem Erzählten?“ Und sie räumt ein: „Im ‚Literaturclub‘ hingegen war ich nicht unter Freunden.“ Steiner saß zwischen Kritikerinnen und Kritikern, nicht in einem Buchclub vor laufender Kamera. Zu großen Selbstoffenbarungen kam es kaum – aber nicht nie.
Selten lassen offenbar Profis Persönliches durchscheinen. Steiner erinnert sich an ein Gespräch mit der Autorin und Literaturkritikerin Elke Heidenreich. Die verriet, wenn auch dort gar nicht zum ersten Mal, dass sie selbst aus ungeliebten Verhältnissen stamme. An das Buch, um das es damals ging, erinnert sich Nicola Steiner nicht.
Nach gründlicher Recherche (und einer Nachfrage bei Letitia Asare in New York) weiß ich aber wieder, welches Buch damals meinen Seelenstriptease zwischen Cola und Pastrami-Sandwich auslöste. Es war „Nachtschwärmerin“ von Leila Mottley. Es geht darin um eine Teenagerin, die von der Oaklander Polizei sexuell ausgebeutet wurde. Der Text basiert lose auf wahren Begebenheiten. Nichts davon hat etwas mit mir zu tun. Die Figur, die mich damals zum Reden brachte, heißt Marcus. Er ist eine für den Roman unwichtige Nebenfigur.