Krieg besteht nicht nur aus ­Töten und Getötetwerden. In „Nulllinie“, einem „Roman aus dem Krieg“, wie der Unter­titel lautet, erzählt der oberschlesische Pole Szczepan Twardoch davon zwar auch. Aber die meiste Zeit sitzen die Soldaten in ihrem notdürftig eingerichteten Unterstand, warten, spähen, lauschen, verfuttern Proviant, hoffen, fürchten sich, schreiben Textbotschaften oder funken ihre Vorgesetzten an. Der Ort, an dem sie das tun, ist prekär: Die Männer kämpfen seit 2022 zur Verteidigung der Ukraine im Süden des Landes, dort, wo der Dnipro die Linie zwischen russischen und ukrainischen Truppen markiert. Leider sind die Soldaten auf dem „schlechten“, dem linken Ufer des Stroms eingesetzt: Sie sollen dort einen kleinen Brückenkopf halten. So kommt zur Angst vor den Russen noch die Sorge, von der eigenen Artillerie auf dem anderen Ufer getroffen zu werden, sollten die Kampfhandlungen hier aufflammen. Wir sind ganz nah an der Nulllinie. So wird die vorderste Front in diesem Krieg genannt.

Da sitzen sie nun: etwa der Kiewer „Jagoda“ (russisch/ukrainisch für Beere), ein Junge aus gutem Hause, aber Studien­abbrecher, der nach Russlands erstem Angriff 2014 in den Donbass-Krieg zog, sich dann fünf Jahre lang als Barmann in Berlin die Nächte um die Ohren schlug, um schließlich, als Putins Donnergrollen 2021 einen neuen Krieg ankündigte, dieses ganze halbe Berliner Leben an den Nagel zu hängen und sich bereit zu machen. „Der Krieg ruft.“ Dann der Scharfschütze „Małpa“ (polnisch/ukrainisch für Affe), Major und bis vor Kurzem ein frommer, phlegmatischer Gastwirt aus Galizien. Der als Reservist eingezogene „Leopard“, ein ungepflegter, trinkfreudiger Mittfünfziger, der in jungen Jahren in der DDR gedient hat, die Ukraine hasst und auf die Rückkehr der Sowjetunion hofft (sein Vater hatte sich, als 1991 das Imperium zerfiel, auf dem Dachboden erhängt). Außerdem „Ratte“, ungebildet, unmotiviert, hässlich anzusehen, einer jener Rekruten eben, die eigentlich nur überleben wollen und es tatsächlich auch erstaunlich oft schaffen. Zumeist redet man sich mit diesen Rufnamen an, für die hierzulande eine klingende französische Bezeichnung im Umlauf ist:nom de ­guerre. Die Porträts dieser und weiterer Personen, oft wie in einem Atemzug ­herausgeschrieben, gehören zu den stärksten Passagen des Buches.

Die Verachtung für die Rekruten

Und dann ist da noch die Hauptfigur, Rufname Koń (polnisch für Pferd; der Akzent zeigt, wie die Tilde im Spanischen, eine Nasalierung an). Wie alle Kriegsfreiwilligen verachtet der Drohnenpilot Koń insgeheim die Rekruten. Aber er ist kein gewöhnlicher Freiwilliger: Er kommt aus Polen, er zog 2022 in diesen Krieg, und als Ausländer könnte er sich jeden Augenblick wieder verabschieden. Er hat ein Geschichtsstudium hinter sich und in Warschau eine Wohnung und seine Schwester zurückgelassen. Er will nicht mehr zurück in jenes Leben, in die ganze zivile Zivilisation; damals war ihm irgendetwas Traumatisches passiert, was erst gegen Ende des Romans aufgelöst wird. Mit alldem hat er abgeschlossen – glaubt er. Aber ganz aufgegangen in der Kriegskultur ist er nicht. Er fremdelt mit ihr, bleibt Beobachter, ist befremdet über manch chauvinistisches Gebaren seiner Kameraden.

Twardoch hat Koń die Rolle des Erzählers anvertraut. Mehr noch, er lässt Koń nicht nur mit den anderen Figuren sprechen, sondern auch mit sich selbst, in der zweiten Person Singular. Diese doppelte Distanz zum Geschehen hat Reiz: „Das schrulligste Exemplar in diesem Figurenkabinett – das warst du, Koń (…) einer, der den Tod sucht und jetzt plötzlich festgestellt hat, dass er doch leben will, einer, der (…) mitten in der Brandung begann, die Sandkörner am Strand zu ordnen.“ Oft scheint es, als schwebte der Erzähler Koń wie eine Drohne – dieses neue Kampfmittel ist ständig präsent – über dem Soldaten Koń und dem Frontgebiet.

So beobachten wir, wie das Kämpfen Menschen verändert und soziale Hier­archien neu erfindet. Dieser Krieg ist auf ukrainischer Seite ein Krieg der Bürger, wütender Bürger, deren überwölbendes Motiv ist, ihr Land, ihre Stadt, ihre Familien und deren selbstbestimmtes Leben zu verteidigen. Koń und viele andere hassen die Armee, aber sie sehen sich in der Pflicht zu kämpfen. Vorne an der Front werden Leistung und Ansehen plötzlich wichtiger als Rangabzeichen; so entsteht hier eine neue Meritokratie.

Eigene Erfahrungen des Autors an der Front

Das Warten auf den Feind öffnet Raum für Erinnerungen. Früh offenbart Koń, dass sein energischer Großvater ­Ukrainer war und nach 1945 in Schlesien eine Deutsche heiratete. Diese Tradition erleichtert es ihm, eine intensive Hassliebe zum Land Ukraine zu entwickeln, und vermehrt sein Ansehen bei den Kameraden. Wichtiger ist als Erzählstrang jedoch seine Annäherung an Zuja, eine jener Frauen, die den Krieg „geradezu geliebt“ haben, weil sie schon 2014 im Einsatz waren, zum Beispiel als Sanitäterinnen, „und weil sie erfahren hatten, wie im Krieg die Liebe schmeckt, wie rasch sie detoniert, einer Tretmine gleich, und in ihren Armen erlischt, glitschig von Blut“.

Twardoch, dessen erfolgreiche Romane in Warschau oder Oberschlesien zur Zeit des Ersten oder Zweiten Weltkriegs gespielt haben, hat sich mit dem Mittvierziger Koń eine Art Alter Ego geschaffen. Der Autor selbst war mehrfach nahe der ukrainischen Front mit technischen und militärischen Hilfsgütern unter­wegs, die er über Crowdfunding finanziert hatte. Im Frontgebiet hat er Eindrücke gesammelt, die er nach früherer Aussage zu Essays verarbeiten wollte, doch weil er „diesen Krieg so nahe an der Wahrheit beschreiben“ wollte, wie es ihm möglich sei, habe er doch ins Fiktionale wechseln müssen. Zweifellos gilt die Sympathie des Autors den Ukrainern, was allerdings der „Wahrhaftigkeit“ des Beobachtens keinen Abbruch tut. Die ständigen heftigen Diskussionen unter den Soldaten über das eigene Vorgehen, auch Końs kritische Selbstbefragung lassen eine Stimmenvielfalt entstehen, die eine „anarchische Freiheitsliebe“ (Koń) als wichtige Eigenschaft der Ukrainer widerspiegelt.

„Die Nulllinie“ ist kunstvoll geschrieben, mit Verweisen auf die Weltliteratur (Homer) gespickt, in ihrer Darstellung des Kriegsalltags ernüchternd und, wenn man sie als Kommentar zu den heutigen, wahren oder vorgetäuschten Friedensbemühungen lesen will, deutlich pessimistisch. Allerdings ist das Buch nicht derart aus einem Guss wie der „Nullpunkt“, ­jener 2022 auf Deutsch erschienene ­Roman, in dem mit Artem Tschech ein ­ukrainischer Soldat selbst seine Erlebnisse an der umkämpften Donbass-Linie verarbeitet hat. Olaf Kühl hat Twardochs Buch größtenteils grandios übersetzt, aber einige Schnitzer stehen im Text: Das „Poligon“ steht nicht im Duden, und mit „Donbecken“ ist wohl das Donezbecken in der Ostukraine gemeint. Ein kleines Glossar militärischer Begriffe sowie der Mutterflüche, die wie Ornamente in ­kyrillischer Schrift den Text durchziehen, hätte bei manchen Lesern die Zufriedenheit gesteigert. Gleichwohl: Dies ist ein mit­reißender Roman, vielleicht das beste Prosawerk, das ein ausländischer Autor bisher über diesen Krieg geschrieben hat.

Szczepan Twardoch:  „Die Nulllinie“.  Roman aus dem Krieg.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2025. 
256 S., geb., 24,– €.