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Russland bereitet eine neue Offensive vor. Die Ukraine warnt bereits seit Wochen vor Putins Plänen. Doch wo könnten die Kremltruppen losschlagen?

Wladimir Putin wähnt sich in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine fest im Sattel. „An der gesamten Frontlinie liegt die strategische Initiative vollständig in den Händen der russischen Streitkräfte“, behauptete der Kremlchef am vergangenen Donnerstag auf einem Forum in der arktischen Hafenstadt Murmansk. „Unsere Truppen, unsere Leute rücken vor und befreien ein Gebiet nach dem anderen, eine Siedlung nach der anderen, jeden Tag.“

Aktuelle Lage im Ukraine-Krieg: Russlands Front-Gewinne stagnieren

Militäranalysten schätzen die Situation weniger eindeutig ein. Laut Zahlen der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) markierte der vergangene März den vierten Monat in Folge, in dem russische Geländegewinne in der Ukraine zurückgingen. Im vergangenen November noch erreichten die russischen Gewinne einen Höchststand von 725 Quadratkilometern – seitdem aber verliert die russische Offensive an Momentum. Im März verzeichneten die Russen nur noch Gewinne von 240 Quadratkilometern.

Geht es nach Putin, soll sich das wohl bald wieder ändern. Seit Wochen warnen die Ukrainer vor einer neuen russischen Offensive – vor allem mit Blick auf die Verhandlungen zwischen den USA und Russland über einen Waffenstillstand. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirft Russland vor, die Gespräche hinauszuzögern, „nur um Zeit zu gewinnen und dann zu versuchen, mehr Land zu erobern“, sagte er beim Ukraine-Gipfel vergangene Woche in Paris. Selenskyj könnte Recht behalten.

Markus Reisner sieht in den jüngsten Aussagen des russischen Präsidenten zum Krieg auch ein Eingeständnis. „Putin räumt mit seiner Aussage indirekt ein, dass seine Streitkräfte auf der taktisch-operativen Ebene des Kriegs derzeit Herausforderungen haben, welche ihren Vormarsch wesentlich einbremsen“, sagt der Militärexperte im Gespräch mit t-online. Auf lange Sicht sieht der Kremlchef seine Truppen also in der Initiative, erkennt demnach aber aktuell Probleme beim Vormarsch.

Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. (Quelle: Österreichisches Bundesheer)

Oberst Markus Reisner (geboren 1978), ist Militärhistoriker und Leiter des Instituts für Offiziersausbildung des österreichischen Bundesheeres an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal „Österreichs Bundesheer„.

Insbesondere der Einsatz von Angriffsdrohnen ermögliche es den Ukrainern aktuell, widerstandsfähig zu bleiben. Zwischen 70 und 80 Prozent der Verluste an der Front gehen zu diesem Zeitpunkt auf Angriffe mit Drohnen zurück. „Zuletzt ist den Russen deshalb kein operativer Durchbruch gelungen“, erklärt der Oberst des österreichischen Bundesheeres.

„Auf der strategischen Ebene hat Russland durchaus die Oberhand“

Dennoch habe der Kremlchef mit einer Aussage recht: „Auf der strategischen Ebene hat Russland durchaus die Oberhand: Der Ukrainekrieg ist ein Abnutzungskrieg – sowohl beim Personal als auch beim Material hat Russland dabei klare Vorteile.“

Seit Monaten gelingt es den Ukrainern kaum, ihres Personalproblems Herr zu werden. An den Frontabschnitten können kaum Rotationen stattfinden, dazu fehlt es an neuem Personal, um effektiv neue Einheiten für eigene Offensiven aufzubauen.

UKRAINE-CRISIS/CONTRACTVergrößern des BildesJunge ukrainische Rekruten absolvieren ein Militärtraining in der Region Charkiw: Die Ukraine kämpft bereits seit Monaten mit massiven Personalproblemen. (Quelle: Anatolii Stepanov/reuters)

Russland und die Ukraine stecken in der Schlammphase

Neben den ukrainischen Drohnen bremst derzeit ein weiterer Faktor sowohl die Russen als auch die Ukrainer: Rasputiza. Der russische Begriff beschreibt die sogenannte Schlammphase, in der weite Landstriche durch Tauwetter weitgehend unbefahrbar werden. „Das behindert die Einsatzführung mechanisierter und motorisierter Verbände und beide Kriegsparteien müssen vor allem auf Infanterieeinheiten setzen“, so Reisner.

Der Militärexperte beobachtet, dass Russland diese Zeit auch zur Umgruppierung mancher Einheiten nutzt. Der weitgehende Rückzug der Ukrainer nach rund sieben Monaten aus dem Gebiet Kursk begünstigt das. Für Russland stehen die dort eingesetzten Truppen nun zu weiten Teilen wieder zur Verfügung. „Wohin diese Einheiten gehen, ist noch nicht vollständig klar“, so Reisner.

Für die Ukraine könnten sie unabhängig von ihrem Einsatzort ein ernstes Hindernis werden: „Es handelt sich dabei auch um Eliteeinheiten wie Fallschirmjäger und Marineverbände“, so Reisner. „Das kann den Ukrainern in Zukunft große Probleme bereiten.“

Video | Ukraine: Russische Drohnen greifen während Fußballspiel an

Quelle: t-online

Tatenlos schauten Kiews Truppen dabei jedoch nicht zu, erklärt Reisner. Die derzeit laufenden Angriffe im russischen Grenzgebiet zielten auf jene Neuaufstellung der Russen ab: „Die ukrainischen Streitkräfte versuchen, die Umgruppierung zu verhindern und russische Kräfte zu binden – deshalb haben sie Angriffe im Gebiet Belgorod begonnen.“ Mehr zu den ukrainischen Angriffen in dieser Region lesen Sie hier.