An der kanadischen Westküste waren die Stimmen am Dienstagmorgen noch nicht ganz ausgezählt, da saß der neu- und wiedergewählte Premierminister Mark Carney knapp 3.000 Meilen entfernt in Ottawa schon wieder in seinem Büro. „Es ist Zeit, dass wir loslegen“, hatte er den wartenden Reportern zugerufen. Was er damit meinte, offenbarte sich nur wenige Minuten später, als die Globe and Mail, eine der großen Tageszeitungen des Landes, die vollständige Liste des neuen Kabinetts veröffentlichte. Die Journalisten bezogen sich dabei auf „eine Regierungsquelle“. Was Carney selbst noch nicht sagen konnte, hatte er einem vertrauten Journalisten überlassen.
Mark Carney ist ein Neuling in der Politik, doch er beherrscht das Spiel schon wie ein gewiefter Veteran. Sein erstes demokratisches Mandat erhielt der vierfache Familienvater erst Anfang März, als er nach dem Rücktritt von Justin Trudeau zum Parteivorsitzenden der Liberalen Partei Kanadas (LPC) und damit zu Trudeaus Nachfolger als Premierminister gewählt wurde. Bis dahin kannten ihn die Kanadier, wenn überhaupt, als den Ökonomen, der das Land 2008 als Chef der Zentralbank durch die globale Finanzkrise steuerte. Wegen seiner angenehmen Erscheinung wurde er damals auch der „George Clooney der Zentralbanker“ genannt.
Doch sein sanftmütiges Auftreten täuscht darüber hinweg, dass er ein kluger Stratege mit einem sicheren politischen Instinkt ist. Der weiß, worauf es gerade ankommt und genau dort den Finger anlegt. Denn nach zehn Jahren Trudeau wollte die Mehrheit der Kanadier allen Umfragen zufolge einen Politikwechsel. Das war Ende des vergangenen Jahres. Dann zog Donald Trump wieder ins Weiße Haus ein und stellte binnen weniger Wochen die kanadische Politik auf den Kopf.
© Lea Dohle
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Kanada und die Kanadier wären doch viel besser dran, wenn sie der 51. Staat der USA würden. Diese absurde Idee formulierte der US-Präsident mal als Angebot, mal als Drohung, doch war die Reaktion immer dieselbe. Die Kanadier, bis dahin zufrieden mit ihrem leisen, unaufdringlichen Nationalstolz, entwickelten über Nacht einen lauten Nationalismus, den Mark Carney zielsicher und glaubwürdig bedienen konnte.
Seine Regierung werde das „Land gegen jeden verteidigen, der uns nicht respektiert und unsere Souveränität infrage stellt. Koste es, was es wolle“, wetterte er im Wahlkampf auf den Marktplätzen und in den Einkaufszentren des ganzen Landes. Während seines Studiums in Oxford war Mark Carney Kapitän der Eishockeymannschaft. Jetzt bediente er sich einer Metapher aus dem kanadischen Nationalsport: „Elbows up“, die Ellenbogen hoch, das signalisiert auf dem Eis uneingeschränkte Kampfbereitschaft. Es wurde Carneys Schlachtruf und Wahlkampfslogan.
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„Seinen Sieg verdankt Carney nicht zuletzt Donald Trump mit seinem Geschwätz über Kanada als 51. Staat der USA“, sagt Balkan Devlen, Direktor des Transatlantikprogramms am Macdonald-Laurier Institut in Ottawa. „Sein staatsmännisches Auftreten macht ihn für viele zu einem glaubhaften Verteidiger von Kanadas Interessen“, sagt er. Dazu kommt Carneys Erfahrung in der Privatwirtschaft. 13 Jahre lang hat er in London, Tokyo, New York und Toronto für die Investmentbank Goldman Sachs gearbeitet. „Das beeindruckt Donald Trump“, sagt Balkan Devlen.
Gleichzeitig vertritt Carney mit seinem Lebenslauf auch genau die globale Elite, die Trump zum Feind Amerikas erklärt hat. Carney ist der stereotypische, aufgeklärte Davos-Mann, der jahrzehntelang die Vernetzung der globalen Wirtschaft gepredigt und vorangetrieben hat. Der es einmal als einen „moralischen Imperativ“ bezeichnete, den Klimawandel und seine Folgen zum „Ausgangspunkt jeder politischen Überlegung“ zu machen. Für den Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion ganz selbstverständliche Parameter jeder Gesellschaftspolitik sind.
Genau diese drei Pfeiler bringt Donald Trump in den USA gerade zu Fall.
In Ottawa heißt es, Carney und Trump könnten sich möglicherweise bereits nächste Woche treffen. Ob Carney sich dann auf seinen politischen Instinkt verlassen kann, wird sich zeigen. Denn so sehr er dem Mobber aus Mar-a-Lago bisher die Stirn geboten hat, bei den Ausfuhrzöllen sitzt Trump an einem ziemlich langen Hebel. Mehr als 70 Prozent aller kanadischen Exporte gehen in die USA.
Die Hoffnung in Berlin: Carney als Brückenbauer
Die neue Bundesregierung in Berlin setzt unterdessen große Hoffnung in Carney. „Als Vorsitzender der G7 kann der neue kanadische Premierminister viel anstellen, um einerseits Brücken zu bauen zwischen Trump und dem Rest des Westens und andererseits, um Washington in aller Robustheit klarzumachen, dass die USA sich mit ihrer Zollpolitik auf einem Irrweg befinden, der schlimme Konsequenzen haben kann, auch für sie selbst“, erklärt ein Außenpolitiker der CDU, der nicht genannt werden will.
Im eigenen Land wird Mark Carney hingegen ein Liberaler sein, der konservativ regieren muss. Im Parlament fehlen ihm drei Sitze für eine absolute Mehrheit. Und obgleich sogar die französischsprachigen Nationalisten des Bloc Québécois ihre Unterstützung zugesichert haben, muss Carney auf eine starke konservative Opposition Rücksicht nehmen. Er sei da ganz pragmatisch, sagte er kürzlich in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Sender CBC. Als Ökonom halte er sich an die Worte des großen britischen Volkswirtschaftlers John Maynard Keynes: „Wenn die Fakten sich ändern, ändere ich meine Meinung.“
In welche Richtung dieser Pragmatismus das Land führt, dafür gab es schon in den ersten vier Wochen nach Carneys Amtsantritt im März erste Anzeichen. Er schaffte eine CO2-Steuer für Verbraucher ab und er machte das Ministerium für Frauen und Gleichberechtigung der Geschlechter dicht. In der Gerüchteküche der Klein- und Hauptstadt Ottawa ging zu der Zeit die Nachricht um, dass er für beide Entscheidungen heftige Kritik aus der eigenen Familie kassiert hätte. „Die neue First Lady, Diana Fox Carney, ist Agrarökonomin und hat sich ihr ganzes Berufsleben lang in Denkfabriken und Nichtregierungsorganisationen für den Klimaschutz eingesetzt. Dass ihr Mann ausgerechnet hier zurückrudert, hat wohl zu einiger Spannung geführt“, sagt Balkan Devlen. Carneys Kind Sasha, das die Pronomen they/them bevorzugt, sei unterdessen über die Abschaffung des Frauenministeriums erbost gewesen.
Mehr Gewicht als der familiäre Gegenwind hatte für Mark Carney aber wohl die Tatsache, dass er ohne die Konservativen im Parlament nicht auskommen wird. Diese dominieren vor allem in den Provinzen Alberta und Saskatchewan, wo Kanadas Öl- und Gasvorkommen lagern, die mehr als drei Prozent der kanadischen Wirtschaftsleistung ausmachen und 800.000 Arbeitsplätze sichern.
Will Mark Carney als 24. Premierminister der Kanadier erfolgreich sein, muss er die Beziehungen zu den USA kitten, zahlreiche innenpolitische Baustellen (wie die enorm hohen Lebenshaltungskosten) bewältigen und Kanadas Rolle als ernst zu nehmendes Mitglied westlicher Bündnisse wie der G7 und der Nato stärken. Das ist nicht weniger als die Quadratur des Kreises. Doch im Moment scheint er der beste Mann für diesen Job zu sein.