Experten: Frankreich brauchte deutschen Strom, nicht umgekehrt

Diese Behauptung ist falsch, das zeigen Daten zu Strom-Import und -Export. Im Gegenteil war es genau andersherum: Habeck fragte nach der Lage der AKW in Frankreich, weil Deutschland zu dieser Zeit Strom an die Nachbarn lieferte und sich auf den Winter vorbereiten musste. Die Stromversorgung in Deutschland war damals sowieso gesichert, auch ohne Importe, das sagen Experten. Derzeit importiert Deutschland wieder netto gesehen Strom, die deutschen Strompreise sind im europäischen Vergleich hoch.

Die Aussagen über einen angeblichen „Bettelbrief“ seien „Quatsch“ und eine „Verkehrung“ der tatsächlichen Abläufe, sagt Bruno Burger im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. Burger ist Professor am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme. „Aus meiner Sicht ist die Behauptung schlicht falsch und auch überhaupt nicht nachvollziehbar“, sagt auch Leonhard Probst, der ebenfalls am gleichen Fraunhofer-Institut arbeitet. Burger und Probst erstellen Datenvisualisierungen zu Stromerzeugung, Strompreisen und Stromfluss in Europa.

Um zu verstehen, wie Burger und Probst zu ihrer Einschätzung kommen, muss man die Chronologie der Ereignisse im Jahr 2022 kennen.

Eine Chronologie der Ereignisse

Ab Juli 2022: Die Gas- und Strompreise in Deutschland steigen wegen des völkerrechtswidrigen Angriffes Russlands auf die Ukraine, die Gasspeicher sind ungewöhnlich leer und Russland liefert nur bis September Gas. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) beauftragt die Netzbetreiber, die Sicherheit des Stromnetzes für den Winter 2022/23 zu untersuchen, der sogenannte „Stresstest„.

29. Juli 2022: Bei einem Energieministertreffen der Europäischen Union spricht Bundesminister Robert Habeck nach eigenen Angaben mit der damaligen französischen Energieministerin Agnès Pannier-Runacher. Es geht um die voraussichtlichen Leistungen der französischen Atomkraftwerke (AKW) im Winter 2022/23. Zu diesem Zeitpunkt waren sehr viele der 56 französischen AKW abgeschaltet, wegen Wartungen und Schäden. Frankreich fürchtet um seine Stromversorgung im Winter, unter anderem, weil dort viele Haushalte mit Strom heizen.

08. August 2022: Habeck schreibt einen Brief an die französische Energieministerin Agnès Pannier-Runacher, der dem BR vorliegt. Darin heißt es:

„Du sagtest, dass das Ziel der französischen Regierung ist, zum 1. November 2022 40 Gigawatt AKW-Leistung und zum 1. Januar 2023 50 Gigawatt am Netz zu haben. Kannst Du mir bestätigen, dass ich das richtig erinnert habe?“

Das BMWK schreibt auf #Faktenfuchs-Anfrage: „Es ging nicht um den Import von französischem Strom nach Deutschland, sondern um die Frage des Exports nach Frankreich, um die französische Stromversorgung zu sichern.“ Habeck habe für den „Stresstest“ wissen wollen: Wie viel Strom muss Deutschland im Winter 2022/23 an Frankreich liefern?

19. August 2022: Pannier-Runacher antwortet Habeck, das Antwortschreiben liegt dem BR vor. Sie schreibt unter anderem: „Ich zähle auf Ihre aktive Unterstützung in dieser Frage. In Anbetracht der besonderen Schwierigkeiten, die für die Stromversorgung Frankreichs im kommenden Herbst und Winter zu erwarten sind, werden wir einen reibungslosen Ablauf des Stromaustauschs an den grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen benötigen, insbesondere mit Deutschland.“

29. August 2022: Habeck und Pannier-Runacher telefonieren miteinander. In einem Protokoll dieses Telefonats, aus dem das Magazin Cicero zitiert, wird die französische Ministerin folgenderweise wiedergegeben: „Wichtig, dass wir technische Probleme (bei den französischen AKW, Anm. d. Red.) bis Winter lösen. Sind in derselben Situation wie Ende Juli. Wir wissen nicht, wie der Winter wird: Wenn er kälter wird, brauchen wir auch mehr Unterstützung.“ Pannier habe auch nach den deutschen AKW gefragt.

05. September 2022: Die deutschen Netzbetreiber legen die Ergebnisse ihres Stresstests vor. Ein durchgespieltes Szenario: Die französischen AKW kehren nur zu zwei Drittel an das Netz zurück. Habeck schlägt vor, die beiden deutschen AKW Isar 2 und Neckarwestheim als „Einsatzreserve“ bis Mitte April 2023 zur Verfügung zu halten. Später entscheidet Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die AKW Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland bis zum 15. April 2023 zu betreiben.

September 2022: Deutschland und Frankreich sichern sich in der Energiekrise gegenseitige Solidarität zu. „Deutschland braucht unser Gas, und wir brauchen den Strom, der im übrigen Europa und insbesondere in Deutschland produziert wird“, sagt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Später, im November, unterzeichnen Bundeskanzler Olaf Scholz und die damalige französische Premierministerin Élisabeth Borne eine Erklärung zur Energiesolidarität.

Daten zeigen deutschen Strom-Export nach Frankreich

„Es hat durch den französischen Kernkraftausfall nicht nur Strom in Frankreich gefehlt, sondern in ganz Europa war dadurch eine Strommangellage“, sagt Strommarkt-Experte Bruno Burger zur Situation 2022. Deutschland konnte in dieser Mangellage mit seinen steuerbaren fossilen Kraftwerken sehr viel Strom produzieren.