Der Komponist, Pianist und Dirigent Leon Gurvitch kam aus Weissrussland nach Hamburg. Ein knappes Vierteljahrhundert später ist er eine feste Größe in der Klassik-Szene der Hansestadt, gibt Konzerte in Laeiszhalle und Elbphilharmonie. Im September wird es sogar ein un-gewöhnliches Klassik-Konzert im Docks auf der Reeperbahn geben.
WELT: Woher stammen Sie und wann sind Sie nach Hamburg gekommen?
Leon Gurvitch: Ich bin in Minsk geboren. Meine Kindheit habe ich in Russland, genauer: in Kazan, Tatarstan, verbracht und danach in Minsk studiert auf der Musikhochschule. Dann kam ich mit 22 Jahren nach Hamburg, ohne große Hoffnung, aber mit Visionen.
WELT: Warum haben Sie Weißrussland damals verlassen?
Gurvitch: Das war in der Umbruchzeit kurz nach der Perestroika. Die ganze Sowjetunion funktionierte nicht mehr. Es gab eine sehr gute Ausbildung in der klassischen Musik, aber kaum Möglichkeiten, sich anschließend weiterzuentwickeln, aufzutreten. Selbst Professoren wussten nicht, wie es weitergehen soll. Da herrschte komplette Perspektivlosigkeit. Deutschland war und ist ein führendes Land für klassische Musik. Und ich brauche die künstlerische Freiheit für meine Arbeit.
WELT: In welchem Jahr kamen Sie nach Hamburg?
Gurvitch: Das war 2001 und in Hamburg bin ich zufällig gelandet, es hätte auch eine andere deutsche Stadt sein können. Aber ich kannte Hamburg von einer Gastspielreise im Alter von 15 Jahren und ich hatte es mit seinem Hafen ins Herz geschlossen. Also war froh darüber, hier gelandet zu sein. Dann habe ich von Null angefangen, ohne Sprachkenntnisse, ohne Freunde.
WELT: Wo genau begann dieser Neustart?
Gurvitch: In Altona, mit anderen Flüchtlingen auf einem Schiff.
WELT: Etwa auf der Bibby Altona, dem schwimmenden Flüchtlingsheim, auf das kein Mensch wollte und auf dem es immer wieder Probleme gab? Wie haben Sie diese Zeit erlebt und wie lange waren Sie auf dem Schiff untergebracht?
Gurvitch: Als ich auf dem Schiff „Bibby Altona“ ankam, wurde mir sofort klar, dass ich in eine völlig andere Welt geraten war. Es war ein abgeschlossener Ort, ausschließlich für Migranten. Nicht einmal die Polizei wagte sich dorthin. Ursprünglich dachte ich, ich würde dort nur ein paar Tage verbringen. Doch schließlich blieb ich fast ein halbes Jahr – eine Zeit, in der das Leben oft gefährlich war und in der Angst zum Alltag gehörte. Aber ich hatte einen Blick auf die künftige Baustelle der Elbphilharmonie, einen Blick in die Zukunft sozusagen, immerhin. Und ich hoffe, dass Deutschland ein offenes Land bleibt.
WELT: Wo ging es dann für Sie weiter?
Gurvitch: Dann habe ich eine Wohnung in St. Georg gefunden, wo ich dann auch mit meiner Familie, meiner Frau und meinen beiden Söhnen 15 Jahre gelebt habe und an der Musikhochschule studiert. Die Zeit rast. Seit ein paar Jahren wohnen wir kurz hinter der Stadtgrenze in Neu Wulmstorf, wo ich einen eigenen Raum mit der nötigen Ruhe zum Komponieren habe. Nun bin ich schon fast 25 Jahre in Hamburg, liebe die Stadt sehr, habe hier also schon mehr Lebenszeit verbracht als in Weißrussland.
WELT: Welchen Ort empfinden Sie als Heimat?
Gurvitch: Im Grunde habe ich drei Heimaten: Erstens Minsk, weil ich von dort komme, zweitens Hamburg, weil ich hier lebe und drittens die Musik, in der ich auch zu Hause bin. Aus Hamburg reise ich in die ganze Welt. Und ich habe fast alle meine Werke hier komponiert.
WELT: Sie haben unglaublich viel und vielfältig komponiert, Kammermusik, für Klavier, für Sinfonieorchester, für Filme, fürs Theater, jetzt auch für das Ballett. Wie viele Werke haben Sie mittlerweile geschaffen?
Gurvitch: Bei der GEMA sind rund 400 Werke von mir registriert und ich habe sie praktisch alle in Hamburg geschrieben. Ich teile meine Arbeit zwischen den Tätigkeiten als Komponist, Pianist und Dirigent auf. Dadurch gliedert sich mein künstlerisches leben in verschiedene Bereiche, die sich manchmal überschneiden und eng miteinander verbinden.
WELT: Haben Sie keine Angst, dass Ihnen die Ideen mal ausgehen könnten?
Gurvitch: Nein, eher, dass die Lebenszeit nicht reicht für sämtliche Projekte, die ich gern noch machen würde. Natürlich gibt es immer wieder schwierige Momente, der Weg ist immer noch mitunter steinig. Aber ich gebe nie die Hoffnung auf. Meine Familie und meine Freunde helfen mir dabei sehr. Zu den großen Plänen gehören ein abendfüllendes Ballett und eine Oper.
WELT: Momentan sind Sie aber gut ausgelastet …
Gurvitch: Jetzt ist viel los. Gerade habe ich ein kammermusikalisches Auftragswerk zum zehnjährigen Bestehen des Komponistenquartiers in Hamburg geschrieben, das wurde am 22. April aufgeführt, heißt „Duell“ und basiert auf Themen von Händel und Mattheson. Beide waren in der Hamburger Oper am Gänsemarkt tätig und rivalisierten, Händel war 18 Jahre alt, Mattheson vier Jahre älter. Von den Barockthemen habe ich eine Brücke in die Moderne geschlagen. Am 26. April habe ich dann das Solo-Pianokonzert „Bachomania“ in der Laeiszhalle gespielt, zu Johann Sebastian Bachs 340. Geburtstag. Das Programm setzte sich aus Werken zusammen, die ursprünglich nicht für Klavier geschrieben wurden – aus verschiedenen Kantaten von Bach, etwa für Chor, Cello oder Orgel –, ergänzt durch eigene Improvisationen.
WELT: Weitere Aufführungen stehen an …
Gurvitch: Richtig. Meine Kammeroper „Charms“ nach Gedichten von Daniil Charms wird am 7. Mai im Theater Lübeck aufgeführt, sie hatte auch vor Kurzem schon Premiere an der Staatsoper in Hamburg in der ausverkauften Opera Stabile. In Lübeck spielt und singt die Schauspielerin und ganz tolle Sängerin Svetlana Mamresheva. Gleichfalls in Lübeck ist übrigens auch noch mein Ballett „Kintsugi“ zu sehen, als Gastspiel aus Kiel, in der Choreografie von Edvin Revazov, Erster Solist im Hamburg Ballett John Neumeier. Dann spiele ich am 11. Mai ein Solokonzert in Wien im Ehrbar Saal mit meinem Klavierzyklus „Musique melancholique“, der auch „Kintsugi“ zugrunde liegt, japanisch für die „Kunst des goldenen Flickens“. Dann fliege ich zurück nach Hamburg, weil das nächste Highlight ansteht.
WELT: Sie meinen die Uraufführung des Balletts „Silentium“ nach Ihrer Musik, mit Ihrem Ensemble in der Choreografie von Revazov im großen Saal der Elbphilharmonie am 16. Mai.
Gurvitch: Ja, diesmal getanzt vom Hamburger Kammerballett, das Edvin gegründet hat und das Tänzerinnen und Tänzern aus der Ukraine in Hamburg eine künstlerische Heimat bietet. Das Ballett ist ein Appell für den Frieden.
WELT: Ihre Arbeit ist also durchaus verdichtet…
Gurvitch: Sehr. Gleichzeitig habe ich einen Stapel Aufträge. Für Mailand schreibe ich ein Werk für Chor und Jazzband zu sehr spannenden Gedichten von Umberto Eco. Und dann bereite ich ein weiteres Projekt für Hamburg vor, den Versuch, klassische Musik in einen Musikclub zu bringen, aber nicht in irgendeinen, sondern ins Docks auf der Reeperbahn. Wir werden einen Flügel auf die Bühne stellen und hoffen auf junge Leute, die den Besuch eines Konzertsaals scheuen, aber in den Club gehen und dort Klaviermusik neu erleben können. Unsere Idee ist es, musikalische Grenzen aufzulösen. Filmmusik trifft auf eigene Kompositionen, klassische Motive verschmelzen mit modernen Sounds. Dieses besondere Konzert des neuen Projekts „Piano Unplugged“ findet am 5. September 2025 im Docks Club als Premiere statt.
WELT: Haben Sie so etwas schon mal gemacht oder warum gehen Sie zuversichtlich an das Experiment?
Gurvitch: Diese Brücke zwischen Klassik und Club für Einsteiger zu schaffen, ist in New York gelungen. Da habe ich in zwei Wochen am Broadway zwei Solokonzerte in einer Schauspielschule gegeben, der Stella Adler School of Acting, als Artist in Residence. Da herrschte eine lockere Atmosphäre, die Leute waren euphorisch, sie haben gelacht und Fragen gestellt.
WELT: Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?
Gurvitch: Für mich gibt es mehrere Quellen. Ich lasse mich von Kunst inspirieren, von Poesie, aber auch vom Weltgeschehen, großen Ereignissen. Ein Komponist ist immer auch derjenige, der ein Tagesbuch unserer Zeit schreibt, der reflektiert, was wir heute erleben. Wie seinerzeit Beethoven. Wir wissen ganz genau, was er in der Zeit von Napoleon weshalb komponiert hat. Dann ist auch Heinrich Heine eine große Inspiration für mich, ich habe Heine-Lieder komponiert. Und einen Liedzyklus nach der russischen Dichterin Anna Achmatova.
WELT: Dazu kommen Auftragsarbeiten …
Gurvitch: Klar, ich arbeite wie jeder andere Komponist immer wieder nach Aufträgen, zum Beispiel von Filmregisseuren und Choreografen. Schostakovich sagte einmal, es gibt nur zwei Arten von Musik: gute und schlechte. Nach diesem Motto lebe ich auch. Das Werk „Silentium“ für Klavier und Streichorchester begann ich während der Pandemie zu komponieren, und später brach der Krieg aus. Das zeigt, dass wir, Musiker und Künstler, auf das Geschehen in der Welt reagieren und nicht schweigen dürfen. Zugleich hoffe ich sehr auf eine Zukunft in Frieden. Mit dem Projekt Silentium werden wir am 16. Mai im Großen Saal der Elbphilharmonie einen Appell an alle Zuhörer im Saal sowie an die gesamte Menschheit richten – eine Botschaft der Hoffnung auf Frieden.