4. Mai 2017, 4:21 Uhr, Ballindamm: Ein Betrunkener hat ein Taxi gestohlen, er rast, verfolgt von der Polizei, mit 143 Kilometer pro Stunde in ein anderes Taxi. Ein Mensch stirbt, zwei andere werden lebensgefährlich verletzt. WamS-Autor Peter Wenig und Fotograf Bertold Fabricius machten sich acht Jahre später auf die Spurensuche – und trafen auf große Schicksale.

Die Nacht ist kalt und schwarz, als Ricardas D. am 4. Mai 2017 um 3:40 Uhr ein Taxi auf dem Parkplatz am S-Bahnhof Friedrichsberg aufbricht. Der betrunkene Litauer, vorbestraft wegen Hehlerei und Diebstahl, will das Navigationsgerät stehlen. Doch dann sieht er in der Mittelkonsole den Zündschlüssel und klaut gleich das ganze Auto. 15 Minuten später verfolgt ihn schon die Polizei. Ricardas D. gibt Gas, beschleunigt Richtung City auf mehr als 130 km/h. Um 4:21 will der Taxifahrer Mehmet Yilmaz die Barkeeper John Braasch und Philipp Zumhasch nach ihrem Dienst in der Ciu‘-Bar am Ballindamm zu ihrer Wohnung nach Winterhude chauffieren. Die Fahrgäste steigen ein, Braasch witzelt: „Sechs Plätze nur für uns, so sollte es immer sein.“

Als das Großraum-Taxi anfährt, touchiert Ricardas D. mit 143 km/h die Verkehrsinsel an der Kreuzung Glockengießerwall/Ballindamm und rast ungebremst in den Mercedes Vito. Bei dem Crash stirbt Braasch sofort. „Schwerstes Schädel-Hirn-Trauma mit Hirnzerreißungen sowie Rippenbrüche mit Lungenanspießungen und Bluteinatmung beidseits“, heißt es später im Autopsiebericht. Zumhasch und Yilmaz überleben mit schwersten Verletzungen. Ricardas D. bricht sich Fuß, Unterschenkel, Nasenbein und Kieferhöhle. Ein Moment, der alles verändert. Eine Mutter trauert um ihr einziges Kind. Zwei Menschen kämpfen sich in Krankenhäusern und Reha-Zentren ins Leben zurück. Der Täter sitzt lebenslänglich wegen Mordes. Wie geht es ihnen acht Jahre danach?

Der beste Freund

An einem sonnigen Frühlingstag bestellt Philipp Zumhasch, 33, schlank, sportlich, Bart, in einem Eppendorfer Café Apfelkuchen. Wer die Bilder des völlig zerstörten Taxis kennt, mag dies für ein mittleres Wunder halten. Als der Tontechniker im Unfallkrankenhaus Boberg nach dem Künstlichen Koma seine Patientenakte sehen wollte, rieten ihm Ärzte und Pfleger ab. Die Diagnosen – Blutungen im Hirn und im Schädel, Brüche im Arm, im Oberschenkel und im Sprunggelenk, Milzriss, Lähmungen zahlreicher Nerven – könnten ihn zu sehr belasten. Doch Zumhasch behielt im Krankenhaus und in der dreimonatigen Reha seinen Kampfgeist: „Ich hatte immer das Ziel, dass ich ohne den Rollstuhl die Klinik verlassen kann.“

2023 musste ihm ein künstliches Hüftgelenk als Folge des Unfalls eingesetzt werden. Nun ist ein Bein etwas kürzer als das andere, Zumhasch trägt orthopädische Schuhe, daheim schlüpft er barfuß in nur einen Badelatschen, um die Differenz auszugleichen. Zudem nervt eine Narbe an der Ferse. Aber Zumhasch will nicht klagen: „Ich kann jetzt endlich wieder einem Bus hinterherrennen.“

Er krempelt das linke Hosenbein hoch, zeigt das Tattoo über seinem Knöchel: ein Stern mit den Initialen J, P und M. Die Buchstaben stehen für John, Philipp und Massimo, einem engen Freund der beiden. John hat es zwei Jahre vor dem Unfall sich selbst und seinen Kumpels gestochen. Wir, so die Botschaft, gehören zusammen. Freunde fürs Leben.

„John fehlt mir unendlich“, sagt Zumhasch. Im Sommer 2009 lernten sie sich als Schüler kennen, in einem Geschäft an der Alster verpackten und verkauften die Praktikanten Skateboards. Sie wurden unzertrennlich, beide mit künstlerischer Ader. John malte, ab Oktober 2017 hätte er an der Hamburger Hochschule für bildende Künstler studiert. Philipp fotografierte, vor allem Johns Arbeit im Atelier.

Ich bin ein Fotograf, der sein Motiv verloren hat

Jetzt greift er nur noch selten zur Kamera: „Ich bin ein Fotograf, der sein Motiv verloren hat.“ Und doch ist ihm John jeden Tag nah. Zwei große Bilder seines Freundes stehen in seiner Wohnung, ein Selbstportrait mit diabolischem Blick und ein Portrait von Julius Cäsar, drei filigrane Zeichnungen von John hängen gerahmt an der Wand.

Würden sie heute noch zusammenleben? Zumhasch überlegt: „Vielleicht hätten sich unsere Wege irgendwann getrennt.“ Und dann lacht er: „Vielleicht wären wir aber auch eine prominente Künstler-WG geworden. So wie Udo Lindenberg und Otto Waalkes in den 1970er Jahren.“ Freunde, sagt er, wären sie auf jeden Fall geblieben.

Seine Fotos füllen Festplatten, die Erinnerung an die gemeinsame Zeit wärmt sein Herz. „John konnte Menschen verbinden. Unter seinen Freunden waren Künstler, Obdachlose und Tätowierer“, sagt Zumhasch. Einmal, sagt er, hätten sie in Winterhude das Abendessen auf die Straße verlegt, den Esstisch nach draußen getragen, bei Kerzenschein für zwölf Gäste groß aufgetischt. Momente, die bleiben. „Wenn wir zusammen sitzen und über die alten Zeiten sprechen, erzählt immer jemand eine Geschichte über John.“

Philipp Zumhasch spricht offen über seine Leidenszeit, über den Verlust. Er glaubt, dass dies für ihn psychisch der richtige Weg ist, seine Art der Therapie: „Ich trage meine Trauer nach außen.“

Der Taxifahrer

Zum Jahrestag des Unfalls wird Mehmet Yilmaz wieder Allah danken: „Er hat dafür gesorgt, dass ich überlebt habe und meine Familie weiter versorgen kann.“ Dieser 4. Mai, sagt der 65-Jährige, sei für ihn wie ein zweiter Geburtstag.

Nur schemenhaft erinnert er den Moment des Unfalls: „Da kam ein heller Wagen auf mich zugeflogen.“ Die Minuten danach hat er dagegen genau präsent: „Ich habe dem Sanitäter meinen Namen, meine Telefonnummer und meine Adresse genannt. Und ich habe gehört, wie das Wort Exitus fiel. Danach habe ich mein Schlussgebet gemacht.“ Doch das Wort galt seinem Fahrgast Braasch, der sofort starb.

90 Minuten brauchen die Feuerwehrleute, um ihn aus dem Wrack zu schneiden, das einmal sein Taxi war. Die Ärzte diagnostizieren Brüche in der Augenhöhle, in beiden Becken, im rechten Arm, im linken Fuß sowie angebrochene Lendenwirbel, einen Kreuzband-, Meniskus- und Innenbandriss im rechten Knie und Einblutungen in der Niere. Mehrfach wird Yilmaz operiert. Auf der Intensivstation plagen ihn Albträume: „Ich habe Massen von Toten gesehen. Überall lagen Leichen. In Straßengräben, auf Schiffen, in Zügen.“

Sein angestellter Fahrer chauffiert ihn nach seinem vierwöchigen Krankenhausaufenthalt behutsam heim. Nach monatelanger Reha sitzt er im Januar 2018 erstmals wieder selbst am Steuer, fährt seinen Nachbarn in die Hafencity: „Da habe ich gewusst, es geht wieder.“

Taxifahren ist für ihn viel mehr als nur ein Job: „Mir gefällt der Kontakt zu Menschen.“ Dabei hätte er auch als Ingenieur arbeiten können, Yilmaz hat studiert, das Diplom gemacht: „Ich habe damals 100 Bewerbungen ohne Erfolg geschrieben. Dann habe ich gesagt, ich bleibe beim Taxifahren, damit habe ich schon mein Studium finanziert.“ Zur Reha gehörte auch Psychotherapie. Doch den Schlüssel, das Trauma zu überwinden, fand Yilmaz selbst: Er hadert nicht. Weder mit dem Zufall, der ihm diese Fahrt noch bescherte – er übernahm sie nur, weil einem anderen Fahrgast der Festpreis für eine geplante Tour zu teuer war – noch mit der Versicherung, die erst nach langem Kampf 150.000 Euro als Schmerzensgeld und für den Verdienstausfall zahlte. In dieser Zeit bangte die Familie um ihr kreditfinanziertes Haus, die Zwangsversteigerung drohte. Abwenden konnte er sie dank Spenden – etwa von der Franz-Beckenbauer-Stiftung und der Tätigen Hilfe für Taxifahrerinnen und Taxifahrer in Not – sowie einem Stammgast, der ihm einen zinslosen Kredit gewährte: „Dafür bin ich so dankbar.“

Ich muss doch dankbar sein

Obwohl sein Rücken nach langem Sitzen schmerzt, will Yilmaz noch zehn bis 15 Jahre Taxi fahren, vor allem nachts: „Da ist weniger los auf den Straßen.“ Im vergangenen Dezember rauschte allerdings eine betrunkene Autofahrerin ungebremst in sein Taxi, als er vor einer Gaststätte in Bramfeld parkte. Zum Glück hatte ihn sein Fahrgast auf eine Cola eingeladen. Er wartete also nicht wie üblich in seinem Auto: „Da hatte ich wieder einen Schutzengel.“

Die Frage, warum gerade ich, hat sich Yilmaz nie gestellt: „Ich muss doch dankbar sein.“ Und überhaupt: „Was soll die Mutter von John denn sagen? Sie hat ihr einziges Kind bei dem Unfall verloren.“

Die Mutter

Die Tage und Nächte vor jedem Todestag machen ihr besonders zu schaffen. „Kürzlich habe ich geträumt, dass John und ich in einem Haus auf dem Fußboden sitzen, jeder an einer Wand. Bei ihm stieg das Wasser immer höher. Und ich habe verzweifelt gerufen: Bitte komm rüber zu mir. Aber er hat nur mit dem Kopf geschüttelt. Das war so schrecklich.“

Heike Braasch sagt, dass sie in den acht Jahren hat lernen müssen, mit ihrer Trauer zu leben. Aber kann man das überhaupt lernen? Ihr Gefühlsleben gleicht den Wellen der Ostsee, auf die sie jeden Tag in Travemünde schaut. Ein Auf und Ab. „John war mein Ein und Alles“, sagt die 68-Jährige. Die Beziehung zu Johns Vater zerbrach noch vor der Geburt, Mutter und Sohn wurden unzertrennlich. Sie nahm ihn mit zu Kundenterminen nach Paris, wenn sie dort für ihr Hamburger Modegeschäft Waren orderte. Regelmäßig gönnten sie sich im Hotel Vier Jahreszeiten die Teatime mit Scones und Sandwiches.

Ein Karton in ihrer Wohnung birgt die Erinnerungen an ihr Leben mit John. Zwischen Hunderten von Fotos liegen Briefe, Mini-Box-Handschuhe, ein Feuerzeug mit Buddha-Kopf und eine Zahnbürste. Zum 60. Geburtstag hatte John seiner Mutter die Reise geschenkt: „Mama, Venedig ist wunderbar, ich zeige Dir die versteckten Schönheiten.“ Doch Heike Braasch hatte an jenem 29. Juni 2016 gerade einen neuen Job angetreten, war noch in der Probezeit: „John, lass uns das im nächsten Jahr machen, irgendwann im Frühsommer, wenn es schön warm ist.“

Hier kann ich ihn nicht wirklich spüren

Nun liegt Johns Grab nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt. Sie besucht ihn oft, entzündet das Grablicht vor der Steele mit der Aufschrift „John Braasch 1994-2017“. Und doch, sagt sie, „kann ich ihn hier nicht wirklich spüren.“ Ganz nah war sie ihm wieder am 7. April. „An diesem Tag vor acht Jahren habe ich mein Kind das letzte Mal gesehen. Ich hatte ihn spontan angerufen, ob wir uns in der Ciu‘ Bar mit einem befreundeten Pärchen treffen wollen. Er hatte als Barkeeper am frühen Abend noch wenig zu tun und Zeit für uns. Es war so schön.“

Kraft geben ihr die Besuche von Johns Freunden – sie haben John nicht vergessen: „Der Kontakt ist sogar noch enger geworden.“ Und der Sieg nach einem siebenjährigen Justizmarathon an der Seite ihres Anwalts Gregor Maihöfer gegen die Versicherung des gestohlenen Taxis. Im November 2024 hat ihr das Landgericht Hamburg Schmerzensgeld sowie Schadensersatz von mehr 100.000 Euro für die erlittenen psychischen und physischen Folgen des Unfalls zugesprochen. Die Summe kann sich noch deutlich erhöhen. Laut Urteil muss die Assekuranz Heike Braasch „alle weiteren materiellen Schäden, die ihr infolge der Gesundheitsschädigung entstanden sind, ersetzen.“

„Kein Geld der Welt wird mir den Verlust meines einzigen Kindes ersetzen können“, sagt Heike Braasch. Doch jetzt ist sie zumindest materiell abgesichert. Die Trauer über den Verlust machte sie depressiv, sie wurde durch das Trauma um ihren Sohn erwerbsunfähig. Und ihre Rente ist gering, da sie die meiste Zeit selbstständig war.

Vor allem aber kann sie nun einen Schlussstrich ziehen unter dem belastenden Rechtsstreit mit zahlreichen Gutachten. Zwischendurch, sagt sie, hätte sie aufgegeben wollen: „Aber mein Anwalt hat nur gesagt: ‚Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen‘.“ Vergessen werde sie ihm das nie: „Es ist unfassbar, was er geleistet hat.“

Der Täter

Das Hamburger Landgericht verurteilte Ricardas D. im November 2018 wegen Mordes. Die Richter verglichen ihn mit einem Täter, „der sich auf der Flucht befindet und um sich schießt.“

Ricardas D. trank schon als Jugendlicher exzessiv Wodka und Bier – wie seine Brüder, seine Mutter, sein Stiefvater und seine Großeltern. Eine Lehre zum Tischler brach er ab, trocken war er nach eigenen Angaben nur während seiner neunmonatigen Therapie in einem Heim für Kinder und Jugendliche.

Besuch bekomme ich leider gar nicht

Der Täter verbüßt seine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, auch „Santa Fu“ genannt. Fragen des Magazins „Zeit Verbrechen“ beantwortete er handschriftlich über seinen Anwalt. Sein Alkoholproblem habe er „momentan im Griff“, Kontakt habe er „zu seiner Mutter und zu seinem Bruder“. Besuch bekomme er „leider gar nicht“. Im Gefängnis gehe er zur Schule, auch um seine Deutsch-Kenntnisse zu verbessern. Auf eine Entlassung aus seiner Haft hoffe er „nach zwölf Jahren“, also 2029. Und dann? „Ich möchte als Lagerist arbeiten.“

Dort, wo vor acht Jahren am Ballindamm ein Moment alles veränderte, hat jemand bei einer spontan für John organisierten Trauerfeier in weißer Schrift auf einem grauen Mast geschrieben: „Hier ruht eine Legende.“ Vier Worte, die noch immer leuchten.

Peter Wenig