Im Skandal um Missbrauch und Gewalt an einer katholischen Internatsschule in Frankreich hat Hélène Perlant, die älteste Tochter von Premier François Bayrou offengelegt, selbst betroffen gewesen zu sein. Während ihrer Zeit als Schülerin an dem bekannten Gymnasium nahe Lourdes sei sie vor knapp 40 Jahren schwer körperlich misshandelt worden, sagte die 53-Jährige dem Magazin „Paris Match“.
Ein Geistlicher habe sie an den Haaren zu Boden gerissen und am ganzen Körper geschlagen und getreten, vor allem in den Bauch. Ihren Eltern habe sie davon nie erzählt.
Die Aussagen der Tochter bewegen Frankreich, da Bayrou in der Kritik steht, als Bildungsminister zwischen 1993 und 1997 auf Hinweise zu Missständen in der Schule in seinem Wahlkreis, an der auch seine Frau arbeitete und die einige seiner Kinder besuchten, nicht reagiert zu haben.
Von Missständen habe er damals nichts gewusst, sagte Bayrou am Mittwoch vor Journalisten. Seine Tochter habe den Vorfall ihm gegenüber nie erwähnt. Dass auch sie Opfer der Gewalt geworden sei, „zerreißt mir als Familienvater das Herz“. Dass es zu solchen Entgleisungen kommen konnte, „ist für mich fast unerträglich“, fügte er hinzu.
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Der Regierungschef betonte jedoch, seine Tochter stehe „nicht im Zentrum der Affäre“, die zudem keine persönliche Angelegenheit sei. Er sei nicht nur Vater, sondern vor allem Politiker und denke an die vielen weiteren Opfer, sagte der Premier.
An der Schule Notre-Dame de Bétharram am Fuß der Pyrenäen haben Lehrer und Betreuer nach Aussagen von Betroffenen über Jahrzehnte hinweg Schüler geprügelt und sexuell missbraucht und dieses höchst effizient vertuscht. Es ist einer der größten pädokriminellen Skandale der katholischen Kirche in Frankreich – und einer, der zum politischen Stolperstein für Bayrou werden könnte.
Es war ein Terrorregime.
Hélène Perlant, Tochter des französischen Premierministers François Bayrou
„Die Opfer von Schlägen und sexuellen Übergriffen haben nicht gesprochen“, sagte die Tochter des Premiers, Hélène Perlant, im Interview von „Paris Match“. „Bétharram war wie eine Sekte oder ein totalitäres Regime organisiert, das psychologischen Druck auf Schüler und Lehrer ausübte, damit sie den Mund hielten.“ Es sei dafür gesorgt worden, dass die Betroffenen sich schämten. „Es war ein Terrorregime.“ Am Mittwoch erscheint in Frankreich auch ein Buch der Opfer des Gymnasiums, das einen Beitrag der Tochter des Premiers enthält.
Perlant geht davon aus, dass ihr Vater wie viele andere im Umfeld der Schule nicht begriffen habe, was dort vorgeht. Viele Erwachsene im katholischen Kosmos hätten sich geweigert, der Wahrheit ins Auge zu sehen, weil für sie sonst eine Welt zusammengebrochen wäre.
Ihr Vater sei noch mehr als andere Eltern „politisch und lokal“ mit der Schule verstrickt gewesen, sagte Perlant „Paris Match“ weiter und fügte hinzu: „Je mehr man verstrickt ist, desto weniger sieht man, desto weniger versteht man. Und je mehr Zeugen es gibt, desto weniger wird geredet.“
Die Schule war für ihre Härte bekannt
Zwar war die Schule dafür bekannt, Kinder hart zu behandeln, doch galt dies weithin als erfolgversprechende Erziehungsmethode. Die Frage, welches Ausmaß die Gewalt hatte und welche Rolle sexualisierte Gewalt spielte, stellten sich viele Eltern vermutlich nicht.
Erst als 2023 ein ehemaliger Schüler eine Facebook-Gruppe für Betroffene gegründet hatte, brachen viele von ihnen ihr Schweigen. In der Folge wurden nach und nach weitere schlimme Vorwürfe publik.
Mittlerweile sind 200 Anzeigen wegen körperlicher und sexueller Gewalt bei der Staatsanwaltschaft Pau eingegangen, wobei die meisten aber als verjährt gelten. Sie betreffen mindestens 13 Priester oder Ordensleute und mehrere weitere Mitarbeiter der Schule, zu der auch ein Internat gehört.
Bayrou soll sich zudem Ende der 90er Jahre zu einem Verfahren gegen den damaligen Schuldirektor erkundigt und damit das Ermittlungsgeheimnis verletzt haben. Der Geistliche Pierre Silviet-Carricart stand im Verdacht, sich an einem zehn Jahre alten Schüler am Tag der Beerdigung von dessen Vater vergangen zu haben.
Bayrou muss vor Untersuchungsausschuss aussagen
Der Premierminister weist bislang alle Vorwürfe von sich und stellt sich als Opfer einer politischen Kampagne dar. Mitte Mai soll er sich vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss unter Eid dazu äußern. Es gibt Hinweise darauf, dass er durchaus informiert gewesen sein könnte und auch manche Dinge selbst nicht wahrhaben wollte.
Frankreichs Premierminister François Bayrou soll als Bildungsminister nicht auf Hinweise zu Missständen an der Schule in seinem Wahlkreis reagiert haben.
© REUTERS/STEPHANIE LECOCQ
Der 73-jährige Katholik ist ein in der südfranzösischen Region tief verwurzelter Lokal- und Regionalpolitiker. Er saß 25 Jahre lang im Rat des Départements Pyrénées-Atlantiques, den er zeitweise leitete, war von 1993 bis 1997 Bildungsminister und jahrelang Abgeordneter. Bétharram lag in seinem Wahlkreis.
Zudem hatte Bayrou eine starke persönliche Verbindung zu der Schule: Drei seiner sechs Kinder besuchten die Einrichtung, und seine Frau unterrichtete dort Religion. Sein Sohn war in der Klasse eines Jungen, der 1996 einen Hörschaden erlitt, als ein Betreuer ihn ohrfeigte.
Es war der erste Fall, bei dem es zu einer Anzeige kam. Nach Informationen des Magazins „Mediapart“ besuchte Bayrou, der damals Bildungsminister war, kurz darauf Bétharram und prangerte „Angriffe“ gegen die Schule an.
Nach Recherchen von „Libération“ war Bayrou regelmäßig auf Fotos in der Schulzeitschrift zu sehen, auch gemeinsam mit dem später der Vergewaltigung bezichtigten Direktor.
Ein „MeToo der Schulen“
Der damalige Untersuchungsrichter Christian Mirande sagte kürzlich vor dem Untersuchungsausschuss aus, Bayrou habe ihn kontaktiert, als 1998 das Verfahren gegen den Direktor begonnen hatte. „Er machte sich Sorgen um seinen Sohn“, sagte Mirande. „Er konnte nicht glauben, was passiert war“, fügte er hinzu. Bayrou bestreitet, dass es ein Treffen mit dem Untersuchungsrichter gegeben habe, und auch, dass er den Direktor überhaupt gekannt habe.
Was wirklich passiert war, wurde nie juristisch geklärt: Der Direktor kam gegen den Willen des Untersuchungsrichters frei und wurde in den Vatikan versetzt. Als eine zweite Vergewaltigungsklage gegen ihn einging, nahm er sich im Jahr 2000 das Leben. Sein Leichnam wurde aus dem Tiber gefischt. Bei der Beerdigung in Bétharram war Bayrous Ehefrau anwesend.
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Die Berichte der ehemaligen Schüler von Bétharram haben in Frankreich eine Schockwelle ausgelöst. Auch an anderen katholischen Einrichtungen erheben mehr und mehr ehemalige Schüler Vorwürfe.
Bildungsministerin Elisabeth Borne spricht von einem „MeToo der Schulen“. Die juristische Aufarbeitung ist wegen der Verjährung der meisten Fälle jedoch schwierig. Bislang ist ein ehemaliger Betreuer der Schule, dem Vergewaltigung vorgeworfen wird, in Untersuchungshaft. (dpa/AFP)