Frankfurt am Main ist heute stolz auf seine Hochhäuser und ihre Skyline, die in Europa nur von derjenigen Londons konkurriert wird. Es sind gebaute Symbole kapitalistischer Machtallüre.

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Vor 100 Jahren war die Stadt für so ziemlich genau das Gegenteil berühmt: Avantgardisten und Reformer feierten das modernistische Wohnungsbauprogramm mit Siedlungen wie die geschwungen in die Landschaft gelegte Römerstadt, „Zickzackkhausen“ an der Bruchfeldstraße oder den radikal aus parallel zueinander stehenden Zeilenbauten bestehenden Hellerhof.

Flache Dächer galten als antideutsch

Das „Neue Frankfurt“ erregte die Gemüter: Seine Gegner verdammten den technologischen „Plattenbau“ als handwerkerfeindlich, den Bau mit Hilfe städtischer Genossenschaften als antibürgerlich, die flachen Dächer als antideutsch.

Das nach dem Frankfurter Stadtbaurat benannte Ernst-May-Haus ist ein Museum und zeigt beispielhaft, wie Neues Wohnen in den 1920er Jahren aussah

© Isabela Pacini

Massiv wurden die vier Hauptprotagonisten antisemitisch angegriffen: der 1924 gewählten liberale Oberbürgermeister Ludwig Landmann, der von ihm berufene parteilose, den Linken nahestehende neue Stadtbaurat Ernst May und seinen (nichtjüdischen) Assistenten Martin Elsaesser, der brillante Finanzplaner und sozialdemokratische Stadtkämmerer Bruno Asch sowie Kulturdezernent Max Michel.

Weltoffen und technikbegeistert

Sie standen gemeinsam für eine Stadt, die weltoffen, technikbegeistert, reformoffen und ökonomisch streng gerechnet agieren sollte. Der ästhetisch und soziale Anspruch reichte von kleinsten Details wie Schubfächern in Abstellkammern, straffe Türklinken oder Grabmaldesigns über die großzügige Planung des Frankfurter Grüngürtel bis in die Förderung der neuen Musik. Der umfassende Geist der Lebensreformbewegungen der Kaiserzeit lebte hier weiter wie kaum sonstwo.

Die als „Zickzackhausen“ bekannt gewordene Siedlung Bruchfeldstraße in Frankfurt

© Isabela Pacini

Die wichtigste Grundlage für dies „Neue Frankfurt“ schuf die Weimarer Reichsverfassung 1919. Sie versprach allen Deutschen eine gute Wohnung, gab den Kommunen weit mehr Autonomie als im Kaiserreich, erlaubte aber vor allem jene Enteignungen von Land gegen Entschädigung unter Zeitwert.

3,5

Mark pro Quadratmeter erhielten die enteigneten Eigentümer für ihren Grund und Boden

Die Besitzer erhielten statt der mit zwischen 5 und 15 Mark pro Quadratmeter bewerteten Grundstücke nur 3,50 Mark. Dank der Inflation hatte die Stadt zudem 90 Prozent der „Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen“ erwerben können, konnte in der Weimarer Republik dank guter Haushaltspolitik billig verzinste Darlehen aufnehmen.

Seine dritte Grundlage war die Hauszinssteuer, die Preußen 1924 nach einem Konzept des Wohnungsreformers Martin Wagner einführte wurde. Sie belastete jene Haus- und Grundbesitzer, deren Vermögen oft völlig entschuldet aus der Inflationszeit hervorgegangen war, und war alleine für den Wohnungsneubau reserviert.

Ein Wohngebäude in der Kranichsteiner Straße in Frankfurt

© Isabela Pacini

Frankfurt agierte dabei unter der Finanzdirektion von Bruno Asch und mit der Planungskultur, die Ernst May aufbaute, besonders effizient: Mehr als 12000 Wohnungen entstanden zwischen 1925 und der Weltwirtschaftskrise 1931. Die Stadt hatte etwa 550 000 Einwohner. Sie baute statistisch also fast doppelt so viele Wohnungen wie Berlin, das mit seinen 1930 etwa 4,3 Millionen Einwohnern in der gleichen Zeit etwa 166 000 neue Sozialbau-Wohnungen errichtete.

Und während in Berlin viele Architekten für viele unterschiedliche Genossenschaften arbeiteten, setzte Frankfurt auf straffe Führung unter May.

Frauen spielten von vornherein eine zentrale Rolle

Oft sehr junge Entwerferinnen und Entwerfern – auch das unterschied Frankfurt von Berlin: Frauen spielten von vorneherein eine zentrale Rolle in der Planung – entwickelten neue, hocheffiziente, aber maximal minimierte Grundrisse „für das Existenzminimum“, Siedlungen mit Gemeinschafts-Waschhäusern, Kindergärten, Schulen, und immer neue Bautechnologien.

Zwar waren auch in Frankfurt die Mieten in den Neubauten für die Armen und Arbeiter meist zu teuer. Doch schon die Facharbeiter und Angestellten profierten. Und ihre Wohnungen in den Mietskasernen wurden frei für die Armen – damals entstand die bis heute höchst umstrittene These vom „Triple-Down-Effekt“.

Das Gesellschaftshaus Palmengarten in Frankfurt in den 1920er Jahren, fotografiert von Grete Leistikow

© HMF/Grete Leistikow

Das Leben müsse vollständig neu, modern eben, gestaltet werden, um aus der Krise der bürgerlichen Gesellschaft zu entkommen. Zum berühmtesten Ausdruck dieses Anspruchs wurde die 1926 von der Wienerin Grete Schütte-Lihotzky entworfene „Frankfurter Küche“.

Die Reform des Arbeitsplatzes der Hausfrau war eines der zentralen Themen der Moderne. Studien wie die Schütte-Lihotzkys über Arbeitsabläufe, effiziente Griffe und knappe Drehkreise auf dem Hocker sind Legion, ihr Resultat war die bis heute gebräuchliche „Schweden-Küche“ mit Einbaumöbeln und durchgezogenen Arbeitsplatten.

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Die Frankfurter Küche gilt als ihr wichtigster Vorläufer – nicht zuletzt dank ihrer Propagierung in Mays radikal modernistisch gestalteter, vorzüglich illustrierter und von hervorragenden Autoren geschriebenen Zeitschrift „Das Neue Frankfurt“.

Schütte-Lihotzky sah die Küche als auf Effizienz getrimmten Arbeitsplatz. Die von den Skandinaviern oder den Berlinern um Bruno Taut durchaus akzeptierte Küche mit Essplatz sollte verschwinden, die Zubereitung der Speise strikt von deren Genuss getrennt werden.

Klarheit der Formen

In den 1970ern beschrieb die West-Berliner Wohnungsbauforscherin Myra Wahrhaftig diese Küchen als mit Putzzwang unterlegte „Unterdrückung der Emanzipation der Frau“. Aus der Perspektive der 1920er aber waren die Klarheit der Formen, die Sauberkeit, das Wegfallen von allem Dekor ein Versprechen: Auch Frauen sollten an der Moderne teilhaben.

Ausstellungs- und Lektüretipps zu „100 Jahre Neues Frankfurt“

  • „Die neue Stadt. 100 Jahre Neues Frankfurt“, Museum für angewandte Kunst Frankfurt am Main, 10.5.2025–11.1.2026, Di–So 10–18 Uhr, museumangewandtekunst.de
  • „Para-Moderne. Lebensformen ab 1900“, Bundeskunsthalle Bonn, bis 10.8., Di–So 10-18 Uhr (Mi bis 21 Uhr), bundeskunsthallede
  • Jan Abt, Alexander Ruhe: Das Neue Frankfurt: Der soziale Wohnungsbau in Frankfurt am Main und sein Architekt Ernst May. Grünberg-Verlag, Weimar/Rostock 2008
  • Christian Welzbacher: Das Neue Frankfurt. Planen und Bauen für die Metropole der Moderne. Fotos von Andreas Muhs. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2016

Das „Neue Frankfurt“ stand keineswegs allein. Es war das große Versprechen aller Staaten, deren Bevölkerungen seit 1914 unter dem Krieg litten: Wenn der Frieden kommt, wird es euch besser gehen. Wir werden endlich all die sozialen, politischen und kulturellen Reformen durchführen, die so lange schon anstehen. Ihr müsst nicht mehr in dunklen Mietskasernen hungern und frieren. Es wird für euch und eure Familien neue, helle, freundliche Wohnungen geben, mit Grün, Licht, Luft, Sonne, Freiheit.

Die Schwestern der Frankfurter Siedlungen stehen deswegen in Berlin, Wien, London, Paris, auch in Zürich, Rotterdam, Kopenhagen oder Stockholm.

In seinem Anspruch einzigartig

Und doch: Das Moderne-Projekt Frankfurts blieb in seinem umfassenden Anspruch einzigartig. Das man sich in einer Zeit, in der in Deutschland bis zu 800 000 Wohnungen fehlen sollen, die soziale Kluft immer größer wird, der Staat unter dem Druck von Radikalen steht, wieder für die Experimente Mays mit industriellem Wohnungsbau, für die Enteignungspolitik und vor allem die große Utopie einer gerechten, egalitären, demokratischen Gesellschaft – in Frankfurt waren Mieterbeiräte selbstverständlich! – interessiert, ist kaum verwunderlich.

Weitere Kulturhighlights des Sommers:

Die Berliner Siedlungen der Moderne stehen seit 2008 auf der Welterbeliste. Ohne Zweifel zu Recht. Doch solche Titel können erweitert werden. Noch vor den Wiener Bauten, den Siedlungen Rotterdams und Amsterdams stünde da vor allem das Neue Frankfurt vor Augen. Es blieb in seinem umfassenden Anspruch einzigartig und gehört auf die Welterbeliste.