Am Samstag um 14.56 Uhr stand der türkische Oppositionsführer in Istanbul auf der Bühne, neben sich das Marmarameer, vor sich mehrere Hunderttausend Menschen, laut seinen eigenen Angaben sogar 2,2 Millionen, da schaute er auf die Uhr. Sollte der Nachrichtensender NTV bis um 15 Uhr nicht anfangen, die Kundgebung zu übertragen, sagte Özgür Özel, werde sich der Boykottaufruf der Opposition ab sofort auch gegen den Sender richten.
„Es sind die letzten vier Minuten“, sagte Özel. „Wer diesen Platz nicht sieht, dem werde ich die Macht dieses Platzes zeigen.“ Er meinte die Macht der Menschenmassen, die am siebten Tag nach der Verhaftung Ekrem İmamoğlus zusammengekommen waren, des designierten Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen CHP. Özel ist deren Vorsitzender.
Sie sind viele: Die Proteste nach der Inhaftierung des designierten Präsidentschaftsbewerbers Ekrem İmamoğlu halten nun schon seit mehr als einer Woche an. (Foto: HANDOUT/AFP)
Özel sieht seine Aufgabe jetzt darin, aus den Protesten in der Türkei eine Bewegung zu formen, die anhält. Seit die türkische Justiz gegen İmamoğlu vorgegangen ist, ihn von der Polizei hat abholen und inhaftieren lassen, erlebt das Land die größten Demonstrationen seit jenen im Istanbuler Gezipark im Sommer 2013. Allerdings gehen diesmal auch Menschen auf die Straße, die damals zögerten, es sind nicht allein linke Proteste. Auf den Straßen sind sie überzeugt, dass Präsident Erdoğan persönlich seinen populären Herausforderer verhaften ließ.
Der Präsident ist von der Wucht der Reaktion offenbar überrascht und setzt wohl nach wie vor darauf, dass die Proteste abklingen und dass İmamoğlu in Vergessenheit geraten wird, bis es ohnehin erst 2028 zu Wahlen kommen soll. Dieses Kalkül will Oppositionsführer Özel durchkreuzen. Das Land soll im Ausnahmezustand bleiben, solange İmamoğlu nicht freikommt. Wichtig dabei ist eine Boykottkampagne. Am Samstag, als die Vier-Minuten-Frist um war, ließ Özel NTV wissen, dass die Anhänger der Opposition von nun an nicht nur den Sender boykottieren würden. Sie sollen, so Özel, auch die Konzerne meiden, die bei NTV werben. Dasselbe gilt für andere Erdoğan-treue Kanäle wie ATV oder das staatliche TRT, die Özels Kundgebung ignorierten.
Die CHP glaubt, Boykotte sind dauerhafter als Proteste
Inzwischen boykottieren die Gegner des Präsidenten eine ganze Reihe von Unternehmen, die entweder in Verbindung zu Erdoğan stehen oder denen regierungstreue Medien gehören. Auf der Liste stehen nicht nur Firmen wie die Kaffeekette „Espressolab“ oder die Buchläden von „D&R“, sondern auch Volkswagen und Audi, deren türkischer Vertrieb über die Doğuş Holding läuft – ihr gehört der Sender NTV.
In der CHP glauben sie, dass sich ein Boykott länger durchhalten lässt als tägliche Straßenproteste. Außerdem könnte wirtschaftlicher Druck den Präsidenten noch mehr stören. Einerseits, weil er mit Erdoğan befreundete Unternehmer trifft, also den Machtapparat. Andererseits, weil Erdoğans Partei, die AKP, wegen der Wirtschaftskrise vor einem Jahr schon die Kommunalwahlen verlor. Boykottaufrufe und politische Instabilität machen es Erdoğan schwer, Investoren ins Land zu holen.
Den Anhängern der Opposition gibt das Boykottieren das Gefühl, dass sie ein Mittel gegen den Präsidenten gefunden haben, nachdem es bisher die Regierung war, die bestimmte Medien auszuschalten versuchte. Erst vergangene Woche sprach sie gegen „Sözcü TV“ ein zehntägiges Sendeverbot aus, weil der Sender Özgür Özels Reden übertragen hatte.
Der CHP-Chef verkündete am Wochenende, dass die Partei von nun an zweimal die Woche zu Großveranstaltungen laden werde: immer mittwochs in wechselnden Stadtteilen von Istanbul und samstags in wechselnden Städten. Außerdem startete er eine Unterschriftenaktion für İmamoğlus Freilassung und Neuwahlen. Auch damit will Özel die Demos der Studentinnen und Studenten unterstützen und verhindern, dass der Druck auf die Regierung abnimmt.
Freie Tage zum Zuckerfest verhindern die Demonstrationen nicht
Der Präsident dagegen hatte zum Ende des Ramadans spontan die Feiertage verlängert und den Staatsbediensteten die ganze kommende Woche freigegeben. Wohl in der Hoffnung, dass sich viele Privatfirmen anschließen und die Menschen zu ihren Familien aufs Land fahren würden, sodass es auf den Straßen ruhiger wird.
Aktuell macht die Türkei allerdings nicht den Eindruck, als würde es so kommen. Laut einer Umfrage des Konda-Instituts halten 73 Prozent der Bürgerinnen und Bürger die Proteste für gerechtfertigt. Regierungsvertreter, die auf X frohe Feiertage wünschen, bekommen wütende Antworten. „Ihnen besonders wünsche ich keine schönen Feiertage“, schreibt eine Frau unter einen Post von Erdoğans Sprecher. Ein Mann schreibt, er denke an die Familien, deren Kinder demonstrierten und nun die Feiertage in Untersuchungshaft verbringen.
Anderswo ist X auch noch für Satire gut. Ein Account parodiert die PR-Abteilung von „Espresso Lab“, der vom Boykott betroffenen Kaffeekette. „Geröstet mit AKP-Schnurrbart“, steht in dem Profil, eine Anspielung auf die bei Erdoğan-Anhängern beliebte Gesichtsbehaarung. Es ist solche Häme, die sich nun gegen den Präsidenten entlädt. Und gegen seine Baristi.