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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wer ein großes Fest feiern will, steht schnell vor einem Dilemma. Die engsten Freunde und die eigene Familie sind gesetzt, klar. Aber danach fängt meistens der Ärger an: Wen muss man noch einladen? Sollte auch die schrullige Tante kommen? Der langweilige Nachbar? Der unangenehme Chef? Manche Gäste möchte man nicht dabeihaben, aber gerade ihr Fehlen könnte noch unangenehmer werden, als sie selbst es je sein könnten.
Friedrich Merz, der wahrscheinlich baldige neue Bundeskanzler, steht vor einem ähnlichen Problem. Bei Merz geht es aber nicht um die Einladungen für seine nächste Gartenparty. Sondern um die Frage, ob er einen ausländischen Politiker in Deutschland empfangen sollte oder nicht: den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
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Abgesehen von hohen Sicherheitsbestimmungen wäre ein Besuch Netanjahus in Deutschland bis vor wenigen Monaten unproblematisch gewesen. Doch seit November liegt gegen ihn ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag vor. Ihm werden, genauso wie seinem Ex-Verteidigungsminister Joav Galant und dem mittlerweile verstorbenen Militärchef der Terrororganisation Hamas, Mohammed Deif, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.
Netanjahu ist angeklagt, weil er die Zivilbevölkerung im Gazastreifen gezielt ausgehungert oder die Lieferung von Hilfsgütern absichtlich blockiert haben soll. Zusätzlich wird er beschuldigt, die Bevölkerung im Gazastreifen für den Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober 2023 kollektiv zu bestrafen.
Deutschland erkennt den Gerichtshof in Den Haag an – und müsste Netanjahu deshalb festnehmen lassen, sobald er deutschen Boden betritt. Anschließend müsste er nach Den Haag überführt werden, wo ihm der Prozess gemacht wird. Bis Sonntag verweilt Netanjahu aktuell in Ungarn. Auch dort müsste Netanjahu festgenommen werden, die Regierung von Viktor Orbán hat den Haftbefehl allerdings einfach ignoriert. Aber sollte sich Deutschland gerade an Ungarn ein Beispiel nehmen?
Merz befindet sich in dieser Frage in einer Zwickmühle. Denn die Entscheidung ist schon jetzt eine Lose-lose-Situation: Egal ob Deutschland Netanjahu empfängt oder nicht, kann er eigentlich nur verlieren.
Der CDU-Chef hat sich in der Frage bereits festgelegt. Er halte es für eine abwegige Vorstellung, dass ein israelischer Ministerpräsident nicht nach Deutschland einreisen kann, sagte Merz nach seinem Wahlsieg. Für einen Besuch von Netanjahu werde man „Mittel und Wege“ finden. Welche das sind, ließ Merz aber bisher offen. Ähnlich hatten sich auch der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz oder Ex-Außenminister Joschka Fischer geäußert.
Um dem Haftbefehl nicht zu folgen, gibt es vor allem politische Gründe: Die Signalwirkung einer Festnahme wäre verheerend. Man stelle sich die Bilder vor, wenn ein israelischer Regierungschef, möglicherweise in Handschellen, auf deutschem Boden abgeführt wird – also in dem Land, das im Zweiten Weltkrieg Millionen von Juden ermorden ließ. Der Aufschrei wäre zu Recht riesig, das deutsch-israelische Verhältnis gleichsam zerstört.
Aus einer rein juristischen Sicht stellt sich die Sache anders dar: Im Gegensatz zu Deutschland erkennt Israel den Strafgerichtshof zwar nicht an. Dennoch wurden Ermittlungen gegen Netanjahu eingeleitet, weil die Palästinensergebiete das Gericht anerkannt haben und Netanjahu auf ihrem Gebiet ein mutmaßliches Verbrechen begangen hat. Dabei spielt es für das Gericht in Den Haag auch keine Rolle, dass viele Länder Palästina nicht als eigenständigen Staat betrachten. Auch kann sich Netanjahu nicht auf seine Immunität als Regierungschef berufen.
Die Missachtung des Haftbefehls kann das Gericht in Den Haag zwar nicht ahnden. Deutschland würde sich aber damit auf eine Ebene mit Ländern wie Ungarn oder der Mongolei stellen. Im vergangenen Oktober war etwa dort der russische Präsident Wladimir Putin zu Gast, obwohl auch gegen ihn ein Haftbefehl vorliegt. Die mongolische Regierung verzichtete jedoch auf eine Festnahme.
Anders als im Falle von Netanjahu hatte die Bundesregierung den Haftbefehl gegen Putin begrüßt. Sollte der russische Präsident deutschen Boden betreten, werde man ihn auch festnehmen, hatte etwa der damalige Justizminister Marco Buschmann mitgeteilt. Ein Sprecher des Ministeriums nannte ein entsprechendes Vorgehen eine „Selbstverständlichkeit“.
Würde die Bundesregierung also eine Ausnahme für Netanjahu machen, müsste sie sich den Vorwurf gefallen lassen, mit zweierlei Maß zu messen. Aus jetziger Sicht mag es unrealistisch klingen: Aber der Strafgerichtshof wird künftig wohl die einzige rechtliche Instanz sein, die jemanden wie Putin für seinen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine zur Rechenschaft ziehen könnte. Schon jetzt wird das Gericht in Den Haag häufig als zahnloser Tiger kritisiert. Würde Deutschland den Regularien nicht mehr folgen, ist nicht auszuschließen, dass der IStGH in Zukunft von noch weniger Staaten geachtet wird.
Sich jetzt gegen einen Haftbefehl von Netanjahu zu widersetzen, würde auch die Frage aufwerfen, ob Deutschland den Strafgerichtshof dann überhaupt noch anerkennen sollte. Ungarn hatte es gestern vorgemacht: Nach der Ankunft des israelischen Premiers verkündete die Orbán-Regierung, sich künftig nicht mehr an die Vorgaben zu halten und austreten zu wollen.
Die Bundesregierung könnte sich das eigentlich nicht erlauben: Deutschland zählt zu den Ländern, die den Internationalen Strafgerichtshof selbst in seinem Aufbau bis heute massiv gefördert hat. Auch die Grundlage des Gerichts, das sogenannte Römische Statut, wurde mithilfe der Bundesregierung ausgehandelt. Deutschland ist zudem nach Japan der zweitgrößte Geldgeber des Gerichts und zahlt jährlich Millionenbeträge nach Den Haag.
Die künftige Bundesregierung darf also wählen: Setzt sie entweder das deutsch-israelische Verhältnis aufs Spiel oder schwächt sie den Internationalen Strafgerichtshof? Sie dürfen gerne selbst entscheiden, was für Sie schwerer wiegt. Zu beneiden ist Friedrich Merz an dieser Stelle jedenfalls nicht.
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