Gezeitenkraftwerke – neuer Antrieb für die Energiewende
Ralf Roschlau 08.05.2025 – 06:00 Uhr 6 min
Wirft man einen ersten Blick auf die Planungsdokumente des Unternehmens, erkennt man Anlagen, die aussehen, als ob sich Windräder unter dem Meeresspiegel drehen. Die bis 2028 geplanten vier großen Anlagen im Ärmelkanal werden die gewaltigen Gezeiten des Meeres nutzen, um sehr sauberen Strom aus Wasserkraft herzustellen.
Das Pilotprojekt trägt den Namen NH1. Die Turbinen sollen in mindestens 38 Meter Tiefe vor der Küste der Normandie entstehen. Ihr Standort ist eine Zone im Ärmelkanal, die für ihre starken Gezeitenströmungen bekannt ist, und zwar Straße von Alderney.
Strömungsstrom
Die Strömungsgeschwindigkeit kann am geplanten Standort zwölf Knoten (etwa 22 Stundenkilometer) erreichen. Mit den vier geplanten Anlagen läge die jährlich produzierte Leistung bei 34 Gigawattstunden (GWh) an sauber produziertem Strom.
Grundlage des Unterwasserparks vor der Küste ist eine Nennleistung von insgesamt zwölf Megawatt (MW), die sich auf die vier Anlagen von jeweils drei MW pro Gezeitenkraftwerk verteilen.
Diese Nennleistung liegt unterhalb der von modernen Windrädern an Land, die oft schon sieben MW an Nennleistung aufweisen. Große Offshore-Windkraftanlagen erreichen teilweise 15 MW Nennleistung pro Anlage.
Gleichmäßige Produktion
Das Unternehmen Normandie Hydroliennes betont die hohe Bedeutung von Solarenergie und Windkraft beim Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Der große Vorteil von NH1 sei aber, dass Gezeitenkraftwerke ihre Energieausbeute gleichmäßig und vorhersehbar produzieren würden.
Die Gezeiten als Wasserbewegungen der Ozeane entstehen in genau berechenbaren Zyklen im Zusammenspiel von Sonne, Mond und Erddrehung. Bestehende Gezeitenkraftwerke, die diese Wasserbewegungen zur Stromgewinnung nutzen, gibt es bereits in Frankreich und Südkorea.
Seit 1967 ist in Rance bei Saint-Malo in der Bretagne das erste kommerzielle Gezeitenkraftwerk in Betrieb. Eine 750 Meter lange Absperranlage trennt die Mündungsbucht der Rance vom offenen Meer. Bei Flut fließt Meerwasser durch Turbinen in den Speichersee, bei Ebbe läuft es durch die Turbinen wieder ab. Bis zu 240 Megawatt Leistung kann das Kraftwerk maximal erzeugen. Dem Bau ging ein gewaltiger Eingriff in die Natur mit Folgen voraus. So ist die Mündung der Rance stark verlandet, der Tidenhub ist deutlich geringer als vor dem Bau des Kraftwerks und die Tierwelt hat sich deutlich verändert. Ähnliche Kritik gab es beim Bau des Gezeitenkraftwerks im südkoreanischen Seoul.
Besserer Natur- und Landschaftsschutz als Argument
Das bisherige Konzept überirdischer Gezeitenkraftwerke wie in Frankreich und Südkorea ist wegen der Auswirkungen auf Natur und Landschaft sehr umstritten.
Vorteil des nun vorgestellten Projekts NH1 ist die Verlegung der Stromgewinnung unter Wasser. Das Unternehmen betont, dass die Turbinen in ihrer Konzeption den Schutz des Lebens im Meer nicht gefährden würden.
Generell sind Frankreichs Meeresgebiete für die zweitschnellsten Strömungen in Europa bekannt. Das Unternehmen schätzt das mögliche Potenzial von Energie aus Unterwasserströmungen für Frankreich auf 15 bis 16 Terawattstunden (TWh). Damit könnte man acht Millionen Menschen, also rund acht Prozent der Bevölkerung, mit Gezeitenstrom versorgen.
Im März gab das Start-up bekannt, dass es für sein Projekt NH1 eine Förderung von 31,3 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds der EU bekommen würde. Diese Mittelzuwendung sei eine große Anerkennung für die Projektidee.
Normandie Hydroliennes plant mit den neuartigen Anlagen die Schaffung von 400 Arbeitsplätzen, überwiegend in Frankreich.
Alte Idee – mit neuem Ansatz
Die Kraft des Meeres nutzt der Mensch schon seit Jahrhunderten. In Europa stehen am Atlantik noch Mühlen, die den Wechsel des Wasserstandes zwischen Ebbe und Flut nutzen, um Energie zu erzeugen. Sie dienen zum Teil noch heute als Getreidemühle, Schmiede oder als Sägewerk.
Neben den Gezeitenkraftwerken gab es auch Versuche, Meeresströmungen zur Energiegewinnung zu nutzen. Auch bei Meeresströmungskraftwerken befinden sich die Turbinen, die Strom erzeugen wie auch bei NH1 frei im Wasser. Allerdings galten Meeresströmungskraftwerken bisher als wenig wirtschaftlich. Sie wurden bisher nicht in Serie gebaut und setzen eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen voraus.
Das erste Meeresströmungskraftwerk trug den Namen SeaGen. Es stand in Nordirland in der Meerenge von Strangford und lieferte von 2008 bis 2016 elektrischen Strom mit einer maximalen Leistung von 1,2 Megawatt. Die Anlage funktionierte ähnlich den NH1-Anlagen. An einem vierzig Meter hohen Turm waren zwei Rotoren mit einem Durchmesser von je 16 Metern montiert. Diese drehten sich ja nach Strömungsgeschwindigkeit bis zu 14-mal in der Minute und erzeugten mit einem angeschlossenen Generator Strom.
Der Betrieb von SeaGen endete 2016. Die Anlage wurde bis 2019 abgebaut. Noch im Ausbau befindet sich dagegen das Meeresströmungskraftwerk MeyGen zwischen dem schottischen Festland und den Orkney-Inseln. Seit 2016 liefern die ersten Turbinen Strom. Voll ausgebaut soll MeyGen bis zu 398 Megawatt Leistung erbringen.
Fazit
Es ist gut und wichtig, dass Unternehmen wie Normandie Hydroliennes mit staatlicher und europäischer Hilfe Projekte wie NH1 vorantreibt.
Besserer Natur- und Landschaftsschutz sowie die berechenbare Gleichmäßigkeit der Gezeiten als Energiequelle sind Argumente, die auf den ersten Blick für sich sprechen. Die Praxis wird wie immer beweisen müssen, ob das französische Start-Up seine großen Erwartungen erfüllen kann.
Links
Projekt NH1 – Normandie Hydroliennes