DruckenTeilen
„Wie das Leben unseren Planeten formt“, trägt Ferris Jabr detailliert und staunenswert zusammen.
Der deutsche Titel, „Das Erwachen der Erde“, klingt ein wenig nach Frühlingslyrik – doch Ferris Jabrs Buch über das Entstehen von Leben auf unserem Planeten, über Wechselwirkungen und Veränderungen im Laufe der Jahrmillionen, ist eine Fahrt auf einer Achterbahn. Und am Ende geht es nochmal tüchtig runter: Wenn es nämlich um Joe Bidens Inflation Reduction Act geht, in dem viel Geld bereitgestellt wurde, um den Klimawandel zu lindern – und man inzwischen weiß, dass jetzt eine Katastrophe namens Donald Trump alles wieder zurückzudrehen und kaputtzuschlagen versucht. Eine Katastrophe nicht nur für die USA, sondern die Welt. Und nicht zuletzt für den Menschen.
Aber von vorn. Der Wissenschaftsjournalist Ferris Jabr zeichnet in „Becoming Earth: How our planet came to life“ (Orig. 2024) zum einen die Geschichte der Entstehung von Leben auf unserem Planeten nach. Es geht dabei um das Zusammenwirken der Lebewesen im Gestein, im Wasser, in der Luft. Es geht um die Bedeutung der winzigsten Organismen und der großen Tiere, auch von Sauerstoff, Kohlenstoff, Feuer und Wind. Ein deprimierendes Kapitel ist dem Plastik im Meer gewidmet. Jabr ist hinuntergetaucht zu faszinierenden Wasserwäldern aus Riesentang und hinaufgestiegen bis an die Spitze des zierlichen, doch hohen Turms des Amazon Tall Tower Observatory.
Er hat mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gesprochen, viele aktuelle Forschungsergebnisse zusammengetragen (am Ende des Buches finden sich mehr als zehn Seiten mit Quellen). Und wenn es Widerspruch gibt, lässt er diesen keineswegs unter den Tisch fallen. Am ausführlichsten legt er ihn im Hinblick auf die Gaia-Hypothese von James Lovelock und Lynn Margulis dar, die ihn sichtlich fasziniert. Nach dieser Hypothese, benannt nach der „Großen Mutter“ der griechischen Mythologie, bildet die Erdoberfläche ein dynamisches System, das die Biosphäre stabilisiert. Leben zeichnet sich durch die Fähigkeit von Lebewesen zur Selbstorganisation aus.
Jabr erzählt von dem Besuch beim 100-jährigen Lovelock, beschreibt in Anmerkungen – mit Hilfe langer Zitate aus Fachartikeln des Geowissenschaftlers James Kirchner – auch die Entwicklung und immer wieder Veränderung der Theorie. Kirchner erwähnt ihre Vereinnahmung durch einerseits Umweltschützer, andererseits die Industrie. Letztere erkläre, „Gaias Fähigkeit, Homöostase herzutellen, mache eine Begrenzung der Umweltverschmutzung unnötig“. Homöostase meint einen „Gleichgewichtszustand eines offenen dynamischen Systems“, eine Selbstregulation. Das heißt nicht, dass man der Erde alles antun kann.
Es könnte eine Erde ohne viel Erde sein
Und nochmal von vorn – und also zum Gestein. In dem es, wie man vor noch gar nicht langer Zeit herausgefunden hat, von Mikroorganismen nur so wimmelt. Mikroorganismen, „die noch nicht einmal einen Artnamen haben“, die aber einst das Gestein in Boden verwandelten. Ohne winzige Lebewesen gäbe es nur „eine Erde ohne viel Erde“, schreibt Jabr. Was aber auch bedeutet, dass dieser reichhaltige Planet so nie entstanden wäre. Dass Homo sapiens nie entstanden wäre.
Der Mensch außerdem nicht ohne Sauerstoff. Und nicht ohne Feuer. Dinge, die zusammenhängen. „In der dichten, sauerstoffreichen Luft, die das Atmen und Fliegen viel einfacher machte, wuchsen die Insekten und andere Gliederfüßer der Karbonzeit“. Gleichzeitig wurde die Erde „brennbarer“ als je zuvor. „Feuer (…) war der wichtigste Katalysator für die Evolution des Menschen – der Schmelzofen für unsere Intelligenz, Technologie und Kultur.“
Doch jetzt sind Waldbrände durch das Wirken des Menschen „größer und heißer als je zuvor“ (und Jabr hatte, als er das schrieb, den Brand von Los Angeles noch gar nicht erlebt). Womit wir bei dem Thema sind, das jedes Kapitel des Buches, ob über Gestein, Wasser oder Luft, grundiert. Denn der Autor erzählt zwar höchst anschaulich, wie Mikroorganismen allüberall größeren Organismen eine Entstehung erst möglich machten, wie sich trotz diverser Katastrophen – Vulkanausbrüche, Asteroideneinschläge etwa – Gleichgewicht und Resilienz einstellten, aber er berichtet gleichzeitig von einer Entwicklung, die jetzt erstmals in Rekordzeit gestört wird. Und das nicht von einem Meteoriteneinschlag, sondern von einer angeblich intelligenten Spezies.
Wo früher Jahrtausende oder sogar Jahrmillionen zur Verfügung standen für Selbststabilisierungsprozesse der Erde und ihrer Lebewesen, übertrifft die Geschwindigkeit, „in der wir die Atmosphäre mit einem so großen Kohlenstoffvolumen überschwemmt haben“, alles Dagewesene. Wir jagen in Nullkommanichts in die Luft, so Jabr, was in Jahrmillionen durch Absterben, Niedersinken, Zusammenpressen, eine heilsame und notwendige Veränderungen der Konsistenz entstanden ist: „Ein fossiler Brennstoff ist eigentlich ein Ökosystem in einer Urne.“ Wir setzen frei, was eingelagert bleiben sollte.
Das Buch
Ferris Jabr: Das Erwachen der Erde. A. d. Engl. von Sebastian Vogel. Verlag Antje Kunstmann, München 2025. 344 S., 28 Euro.
Man mag sich vielleicht wundern, dass es in „Das Erwachen der Erde“ gleich im zweiten Kapitel um die „Mammutsteppe“ geht, darum, wie große grasende (Huf-)Tiere einst die Erde mitgeformt haben. Und wie sie immer noch dazu in der Lage wären, den Boden nennenswert abzukühlen, wenn es sie – zum Beispiel Bisons – in großer Zahl gäbe. Jabr berichtet von der bereits in den 1960er Jahren veröffentlichten These, „dass der Mensch die Megafauna des Pleistozäns durch Jagd ausgerottet hat“. Das dürften diejenigen nicht gern zur Kenntnis nehmen, die der Überzeugung sind, Homo sapiens habe einst mit der Natur in großer Harmonie gelebt.
Das Faszinierendste an Ferris Jabrs Buch sind die Schilderungen der in Winzorganismen ablaufenden chemischen Prozesse, die weiteres Leben erst ermöglichten – „das Leben schuf die Luft, die wir heute atmen“ –, sowie von den Mengen an großteils noch ganz unbekannten Mikroorganismen, die einfach überall sind. Auch in rauen Mengen in der Luft, als unsichtbare und dank des Windes oft „unfreiwillige Luftfahrer“. Vieles deutet darauf hin, dass diese Organismen an der Entstehung von Regen und auch an der von Schnee und Hagel beteiligt sein könnten, denn es gibt ein Bakterienprotein, das Wasser gefrieren lassen kann.
Das Erschreckendste an diesem Band mit seinen vielen Details und erstaunlichen Zahlen ist, dass man den Elefanten im Raum nicht vergessen kann: das CO₂, für dessen rasantes Anwachsen in der Luft wir verantwortlich sind – Betonung auf rasant. Die Erde hat es (vor Homo sapiens) geschafft, Kohlenstoff quasi einzufangen und abzulegen, hat sich dadurch abgekühlt, doch das dauert (siehe oben). Wir sind damit die erste Spezies, erklärt Jabr, die das Gleichgewicht, die Homöostase so schnell stört, dass der Autor uns – sicher zu Recht – „eine schrecklich unangenehme Zukunft“ prophezeit.
„Netzwerke von Arten, die dazu beitragen, das System als Ganzes am Leben zu erhalten, werden begünstigt, und solche, die das System bis hin zum Zusammenbruch untergraben, vernichten sich letztlich selbst, selbst wenn sie auf kurze Sicht profitieren.“ Das meint uns, Homo sapiens. Ferris Jabrs „Das Erwachen der Erde“ ist eine wissenschaftlich unterfütterte Mahnung, die in der Lage ist, uns liebgewordene Illusionen zu rauben. Auch die großtönerische Idee, wir könnten uns irgendwo einen anderen Planeten, eine andere Gaia organisieren – obwohl der nächste Planet mit erdähnlichen Bedingungen so viele Lichtjahre weg ist, dass wir ihn wohl nie erreichen werden. Jedenfalls nicht, ehe wir uns ausgerottet haben.
Es wäre weit einfacher, diese Erde jetzt zu bewahren, mit aller Kraft und allem Einsatz, die uns möglich sind.
Seelöwe zwischen Riesentang. © Imago Images