Einen Moment lang ist es ganz still in der größten Arena Berlins. Zu hören ist nur Billie Eilish, die allein, im Schneidersitz, auf der Bühne sitzt und Aufnahmen ihrer Stimme übereinander loopt, um mit sich selbst Harmonien zu singen. Es ist das Intro ihres frühen Hits „When the Party’s Over“.

Zuvor hatte der Popstar ihr Publikum gebeten, eine Minute lang komplett ruhig zu sein, weil sonst die Loop-Technik nicht funktioniere – und was Billie sagt, geschehe: Vereinzelten Zwischenrufern schallt das kollektive „Shhh“ von 17.000 Menschen entgegen. Umso lauer singen alle dann mit, als sie endlich wieder dürfen.

Die Tagesspiegel-App Aktuelle Nachrichten, Hintergründe und Analysen direkt auf Ihr Smartphone. Dazu die digitale Zeitung. Hier gratis herunterladen.

Billie Eilish schafft es während ihres Auftritts am Freitagabend immer wieder, trotz Laser-Show und Flammenwerfern ein Level an Intimität zu kreieren, das ungewöhnlich ist für ein Pop-Konzert dieser Größenordnung. Das liegt auch an ihrer Bühne, die in der Mitte der Halle, nah dran am Menschenmeer, verortet ist.

Erstmals ist Billie Eilish ohne Finneas auf Tour

Die 23-Jährige ist mit ihrem dritten Album „Hit Me Hard and Soft“ auf Welttournee und inzwischen ein alter Profi. Es gibt kaum etwas, das sie in ihrer zehn Jahre umspannenden Karriere nicht erreicht hätte: Streaming-Rekorde, einen Haufen Grammys, zwei (!) Oscars.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Externen Inhalt anzeigen

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Billie Eilish tanzt im Konfettiregen (hier in Stockholm).

© Samir Hussein

Irgendwie hat Billie Eilish, trotz ihrer Jugend, diesem enormen Druck immer standgehalten. Das neue Album ist ihr bisher bestes, mit ihren Fans redet sie wie mit alten Freunden und die Bühne dominiert sie spielerisch. Band und die Background-Sängerinnen sind in einer Art Orchestergräben eingelassen, ansonsten ist sie allein.

Sie braucht keine Tänzer:innen, aufwendige Bühnenbilder oder Kostümwechsel, um eine intensive Show abzuliefern. Erstmals ist auch ihr Bruder Finneas, mit dem sie all ihre Songs schreibt und produziert, nicht mit auf Tour.

Nach dem Opener „Chihiro“, der mit hämmernden Bässen endet, sprintet Eilish für ihren Cunnilingus-feiernden Pop-Hit „Lunch“ einmal komplett über die Bühne und markiert ihr Revier. In den folgenden 90 Minuten demonstriert sie einen wilden Genre-Mix und ihre verschiedenen Personas: Emo-Billie, die in ruhigen Bedroom-Pop-Songs wie „Everything I Wanted“ über Depressionen und Liebeskummer nachdenkt, Raver-Billie, die zu den Elektro-Sounds von „Guess“ – die Laser erstrahlen dafür natürlich in „Brat“-Grün – manisch über die Bühne springt, creepy Billie, die für ihren Stalker-Song „The Diner“ diabolisch in die Kamera grinst  und Rockstar-Billie, die für „Happier Than Ever“ auf der E-Gitarre schreddert.

Die Übergänge wirken nie abrupt, Billie Eilish hat alles im Griff – sogar die Kamera nimmt sie zwischendurch selbst in die Hand und filmt ihre Band und die Fans.

Teenagerinnen in 90er-Jahre-Hip-Hop-Outfits

Der Tag stand bereits im Zeichen von Billie Eilish: Vor dem Konzert fand am Freitag im Festsaal Kreuzberg „Overheated“ statt, eine Art Klimakonferenz, für die Eilish und ihre Mutter bereits in verschiedenen Städten weltweit Aktivist:innen zusammengebracht haben. Auch in den Berliner S-Bahnen war Eilish zu hören, wie sie die Station Warschauer Straße ansagte und ihre Fans ermahnte, aufeinander Acht zu geben im Gedränge.

Während ihres Konzertes schwebt sie immer auf einem Podest empor, etwa für die Power-Ballade „The Greatest“, einem Höhepunkt gegen Mitte der Show. „Man, am I the greatest“, schmettert Billie Eilish aus den Höhen der Halle, streckt ihre Arme weit aus und wirft den Kopf zurück.

Eine messianische Figur: Billie Eilish (hier in Stockholm).

© Samir Hussein

Sie sieht aus wie eine messianische Figur und irgendwie hat dieser Abend auch etwas von einer religiösen Erfahrung – die Kirche ist die Uber Arena, und die Gläubigen sind ein Heer von Teenagerinnen in 90er-Jahre-Hip-Hop-Outfits. Das ist die kulturelle Kraft von Billie Eilish: Wenn sie Bandanas mit Paisley-Muster und Baggy-Pants trägt, macht eine ganze Generation an jungen Frauen das auch.

Eine Pilgerstätte gibt es auch schon – die „Billie Eilish Wall“, für die sich der Popstar während der Show bei ihren Berliner Fans bedankt. 2019 nahm Eilish Platz auf einer Treppe bei der East Side Mall, um ein Foto von sich vor einem riesigen Werbeplakat für ihr erstes Album zu machen. Ihre Fans fingen daraufhin an, auf der Mauer der Treppe Botschaften zu hinterlassen für ihren Star. „I am bi for Billie“, steht da etwa gekritzelt.

Mehr zum Thema auf Tagesspiegel Plus Neues Album von Billie Eilish „Hit Me Hard And Soft“ ist ein kurvenreicher Klangtrip Von Swiftkirchen bis Brat Summer 2024 war ein außergewöhnliches Pop-Jahr Von skinny bis baggy und zurück Was Hosen über den Emanzipationsgrad der Gesellschaft aussagen

Billie Eilish war so berührt von der Aktion, dass sie eigens eine Plakette anbringen ließ, um das Gemeinschaftskunstwerk für immer zu bewahren. Ihre Show geht mit dem für sie ungewöhnlich glücklich klingenden Liebessong „Birds of a Feather“ zu Ende, Billie Eilish verbeugt sich im Konfettiregen und man ist direkt gewillt, sich diesem Kult anzuschließen.