Werther-Isingdorf. „Mit dem Einmarsch „der Amerikaner“ und dem Ende der Kampfhandlungen war der Krieg in unserer Gegend hier zu Ende, jedoch noch lange kein Frieden. Es begann die unruhige Nachkriegszeit.“ Das schreibt der Isingdorfer Landwirt Helmut X. (Name geändert). Er hatte 2008 das Tagebuch seines Vaters Karl X. (Name geändert) aus dem Jahr 1945 transkribiert, um Erläuterungen oder Einträge aus eigener Erinnerung ergänzt und als kleines Büchlein drucken lassen.
In Werther und den Nachbarorten begann die Nachkriegszeit am 3. April 1945 – auch wenn das offiziell besiegelte Kriegsende erst fünf Wochen später am 8. Mai in Berlin unterzeichnet wurde. Hatten die Menschen auf dem Land während der Kriegsjahre relativ wenige Auswirkungen zu spüren bekommen, so änderte sich das schlagartig mit der Kapitulation der einzelnen Orte.
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Denn unmittelbar nach der Besetzung durch die Alliierten hatten diese die unzähligen Zwangsarbeiter, damals beschönigend Fremdarbeiter genannt, befreit, die auf den meisten Höfen und in vielen Betrieben eingesetzt waren. Es waren oft Kriegsgefangene aus den von Deutschland besetzten Ländern Polen, Frankreich, den Beneluxstaaten, Skandinavien, oder auch aus Russland. Aber auch Frauen und Kinder waren aus diesen Ländern nach Deutschland verschleppt worden und wurden zur Arbeit gezwungen.
Zwangsarbeiter schießt auf Bauern
Nun waren sie frei, aber zunächst ja immer noch fern der Heimat, ohne soziales Netz. Helmut X., der bei Kriegsende selbst 19 Jahre alt war, schrieb, dass die „Fremdarbeiter“ als „marodierende Banden“ durchs Land zogen und dass sie zum Teil Vergeltung übten „für vermeintlich ungerechte Behandlung“. Schon am 3. April, also dem ersten Tag nach Einmarsch der Amerikaner in Werther schrieb Helmut Xs. Vater Karl in sein Tagebuch: „Der Pole Johann hat auf Wilhelm G. geschossen. Er ist nicht getroffen. Johann ist mit Gewehr weggekommen.“
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Am 22. April, einem Sonntag, schreibt er: „Nachmittags drei Amerikaner und drei Polen auf der Suche nach Schnaps.“ Vier Tage später ist notiert: „Bedrohung durch Russen wegen Zucker.“ Wahrscheinlich hatte, so mutmaßte Helmut X., der „Pole Johann“ die Informationen weitergegeben, dass in der Scheune der Familie X. Steinhäger und auch Zucker lagerte. „Er hatte wohl bei der Einlagerung hier in der Scheune geholfen.“
Am darauffolgenden Sonntag geschieht dann der vermutlich folgenreichste Überfall in Isingdorf durch freigelassene Zwangsarbeiter, bei dem ein Mensch stirbt. „29. April, Sonntag – Überfall der Russen bei Linhorst; Schwarze tot“, ist der einzige Satz, den Landwirt Karl X. dazu in seinem Tagebuch notiert hat.
Beim Überfall wurden alle in einen Raum geschlossen
Gustav Schwarze war 75 Jahre alt. Er war Schulrektor im Ruhestand und stammte aus Bielefeld. Dort war die Wohnung von ihm und seiner Frau allerdings durch Bomben zerstört worden, sodass das Ehepaar Zuflucht bei der Verwandtschaft im ländlichen und unzerstörten Werther gesucht hatte. Landwirt Gustav Linhorst senior war der Schwager Rektor Schwarzes und hatte das Paar aufgenommen.
„Gustav Schwarze war ein äußerst liebenswerter Mensch“, erinnert sich Hiltraut Linhorst. Die heute 93-Jährige war bei dem Überfall auf den Hof ihrer Familie 13 Jahre alt und ist wahrscheinlich eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen. Sie kann sich an das Eindringen der fremden Männer erinnern. Daran, dass „wir alle“ in einem Raum zusammenkauerten und dass die Eindringlinge wild um sich geschossen haben.
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Genauere Erinnerungen hat Paul-Gerhard Schwarze 2008 niedergeschrieben. Der frühere Pfarrer der Bielefelder Paulus-Gemeinde war der Enkel des erschossenen Gustav Schwarze und hatte in einer Familienchronik sowie in einem Brief an Helmut X. von dieser Nacht berichtet.
Tödlicher Schuss fiel aus drei Metern Entfernung
Vier Wochen nach dem Kriegsende in der Region „wurde Opa Eickel, wie wir ihn abgekürzt nannten, auf dem Hof Linhorst in Isingdorf nachts um 2 Uhr bei einem Überfall durch eine plündernde, 20 Mann starke, Polenbande erschossen. Die Traurigkeit war groß, auch Zorn und Wut mischten sich darunter“, schrieb er in der Familienchronik.
„Bereits in der Nacht zum 23. April wollten Polen den Hof überfallen. Mein Großvater stellte sich ihnen entgegen – 1,85 m groß, schlohweißes Haar, eine Ehrfurcht gebietende Gestalt trotz seiner 75 Jahre. Die Bande floh“, schrieb er aus der Erinnerung einige Jahre später auf.
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Der Überfall habe etwa zwei Stunden gedauert. Alle Bewohner des Hofes, etwa zwölf bis 15 Personen, seien in einem Zimmer zusammengetrieben und streng bewacht worden. „Mein Großvater wurde gezielt aus drei Metern Entfernung erschossen. Alle anderen Personen wurden verschont, auch meine Großmutter, die direkt neben meinem Großvater stand.“ Dass sein Großvater aus Rache für den sechs Nächte zuvor vereitelten Überfall erschossen wurde, schließt Schwarze nicht aus.
Ruppiger Umgang mit Zwangsarbeitern
Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde Gustav Schwarze auf dem Wertheraner Friedhof beigesetzt. Die Familie hatte zuvor den amerikanischen Kommandanten „um besonderen Schutz für den Hof Linhorst“ gebeten. Wochenlang blieb über Nacht eine amerikanische Patrouille auf dem Hof.
Sie wolle nicht den Stab über die Kriegsgefangenen brechen, sagt Hiltraut Linhorst 80 Jahre nach diesen Ereignissen. „Wer das nicht miterlebt hat, kann sich das nicht vorstellen.“ Auf anderen Höfen sei bestimmt ruppig mit den Zwangsarbeitern umgegangen worden. „Die haben sich dann einfach gerächt und wollten allgemein Angst und Schrecken verbreiten.“
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