Halle. Als Gerhard Weber 2015 den Vorstandsvorsitz abgab und in den Aufsichtsrat wechselte, hatte die Gerry Weber International AG bereits ihren Zenit überschritten. Rückblickend weiß man das. Damals war die Lage für die Kundinnen, für die Wegbegleiter und auch für die Beschäftigten so noch gar nicht erkennbar.
Wie auch? Schließlich war gerade erst nach nur 20-monatiger Bauzeit das neue Logistikzentrum im Haller Ravenna-Park in Betrieb genommen worden. Mit rund 90 Millionen Euro die größte Einzelinvestition in der Geschichte des Haller Modeherstellers. Superlative, wie man sie aus dem Hause Gerry Weber gewohnt war. Kein Anlass zur Beunruhigung.
Geplant war eine sechsmonatige Hochlaufphase, in der stufenweise die Kapazitäten aufgestockt werden sollten, um unter Volllast schließlich bis zu 30 Millionen Teile jährlich umschlagen zu können; bei Bedarf sogar bis zu 37 Millionen. Und David Frink, zu dem Zeitpunkt Vorstand bei Gerry Weber, erklärte: „Die Ansiedlung des Logistikzentrums führt zu einer langfristigen Sicherung des Konzernsitzes in Halle und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Region.“
Bau des Logistikzentrums von Gerry Weber zu groß und zu teuer
Der Bau des 90 Millionen Euro teuren Logistikzentrums gehörte zu den größten Fehlentscheidungen von Gerry Weber.
(© Nicole Donath)
Kurz vor der ersten Insolvenz des Traditionsunternehmens Anfang des Jahres 2019 räumte Gerhard Weber aus dem Ruhestand heraus ein: „Die Halle war zu groß und zu teuer. Sie war der Knackpunkt, dass wir in Schieflage gekommen sind.“ Da war bei Gerry Weber gerade die Entscheidung gefallen, 900 Stellen zu streichen und 200 Filialen zu schließen.
All das war neu. Unternehmerische Fehlentscheidungen brachte man bis dato nicht mit der international agierenden und bekannten Modefirma in Verbindung – weder in Halle, in der Region, noch in der Welt. Und schon gar nicht mit Gerhard Weber selbst. Er galt als Perfektionist, als der Mann mit dem einmaligen Gespür für Design und Qualität und die feinen Kniffe in der Modebranche. Er war der Macher, immer mit dem Kopf durch die Wand, immer das letzte Wort. Jahrzehntelang lag er damit zumindest im Ergebnis richtig. Mit dem Bau des Logistikzentrums lag er falsch. Ein fataler Fehler – und es war nicht mal der erste.
Auf der Erfolgsleiter nach oben hatte sich Gerhard Weber nämlich obendrein ein Ziel gesteckt; und das lautete: eine Milliarde Euro Umsatz. Diesen Rekord wollte er erreichen um jeden Preis. In der Konsequenz eröffnete er ein Geschäft nach dem nächsten. 2011 ging das los, also unmittelbar, nachdem seine Firma in den M-Dax aufgestiegen war. Als Begründung führte er an, von den großen Warenhäusern unabhängig sein zu wollen, die ebenfalls Mode von Gerry Weber verkauften. Und so hatten bald selbst viele kleinere Städte ihr eigenes „House of Gerry Weber“.
Weber wollte die Umsatzmilliarde und eröffnete Shop für Shop
Das Problem: Neben oftmals (zu) hohen Mieten gab es gar nicht so viele Kundinnen, wie es gebraucht hätte, um profitabel agieren zu können. Manchmal wurden die Shops schließlich auch noch in unmittelbarer Nähe der größeren Warenhäuser eröffnet, die ebenfalls Damenmode aus Halle im Angebot hatten – praktisch hausgemachte Konkurrenz und in der Summe eine missliche Situation. Doch damit noch immer nicht genug.
Nach Versmold hatte auch Halle bereits in den 1970er-Jahren einen eigenen Gerry-Weber-Shop erhalten.
(© Nicole Donath)
Wie Gerhard Weber im Nachhinein ebenfalls einräumte, habe man ab einem bestimmten Zeitpunkt wohl versäumt, die Kollektionen zu verjüngen. „Vielleicht haben wir das nicht konsequent genug getan.“ Dabei dürfte sich der Mitbegründer des Modeunternehmens selbst am meisten über diese drei gravierenden Fehler gegrämt haben, zu denen sich ja nach und nach noch die allgemeinen Probleme der Branche gesellten: Konkurrenz durch den Onlinehandel, Inflation, Änderungen der Verbrauchergewohnheiten sowie später die Corona-Pandemie oder das fehlende Russland-Geschäft bedingt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – zum Beispiel. „Ärgerlich, dass ich in diesem Schlamassel auch Fehler gemacht habe“, stellte er selbstkritisch fest.
Eine Chronik zu den Krisenjahren: Keine Zukunft für den Haller Modehersteller Gerry Weber
Seitdem ist das Haller Modeunternehmen nie wieder auf die Beine gekommen. Wechselnde neue Vorstände beziehungsweise Geschäftsführer versuchten sich in immer neuen Ausrichtungen und mit immer neuen Strategien. Nachhaltig im Sinne von wirtschaftlichem Erfolg war am Ende keine. Und das, obwohl viele weitere Hunderte von Beschäftigten entlassen wurden, obwohl man das Filialnetz drastisch verkleinerte, obwohl der insolvente Modehersteller allein 2023 im Zuge der Sanierung rund 150 Millionen Euro seiner Schulden loswurde: Während die Aktionäre leer ausgingen, blieben damals nur die Forderungen der drei Großaktionäre Robus, Whitebox und J.P. Morgan bestehen. Forderungen, die bis 2027 gestundet wurden. Praktisch als Sicherheit werden sich die drei Unternehmen dafür seinerzeit die Markenrechte gesichert haben.
Am Ende hat das Haller Modeunternehmen Gerry Weber den Faden verloren
52 Jahre nach der Gründung von Gerry Weber wird der Firmensitz in Halle in den nächsten Monaten abgewickelt, die 281 Beschäftigten entlassen.
(© dpa)
Dass es spätestens jetzt, da Gerry Weber am 10. März erneut beim Amtsgericht Bielefeld Insolvenz in Eigenverwaltung beantragt hatte, eng werden würde, war klar. Doch dass in dieser Woche tatsächlich die Aufgabe des Traditionsunternehmens am Standort Halle bekannt gegeben wurde, ist einer der bittersten Augenblicke für die Beschäftigten und letztlich natürlich auch für die Stadt Halle überhaupt. Selbst dann, wenn Gerry Weber schon lange nicht mehr der Top-Steuerzahler war. Aber was das Unternehmen für den Bekanntheitsgrad geleistet hat, was hier aufgebaut wurde – das bleibt unvergessen.
Was Weber und Hardieck in Halle geschaffen haben, bleibt unvergessen
Und letztlich natürlich auch die Geschichte selbst. Abgesehen von den unternehmerischen Fehlentscheidungen, abseits der oftmals aufbrausenden Art des einstigen Vorstandsvorsitzenden: Das, was Gerhard Weber ab 1973 gemeinsam mit seinem Partner Udo Hardieck geschaffen hat, ist mehr als das, was am Ende übrig geblieben ist.
So wird in diesen Wochen lediglich noch das Gerippe ausgenommen. Vielleicht mag am Ende der Markenname überleben. Aber das Herz der Firma hat spätestens am Dienstag aufgehört zu schlagen. Die Karawane zieht weiter – zurück bleiben Menschen, die sich für ihre Firma eingesetzt oder sogar aufgeopfert haben. Und die stehen jetzt mit leeren Händen da. Es ist die Geschichte, wie Gerry Weber den Faden verlor.
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