Nein, der Westen bedroht die russische Sicherheit nicht. Trotzdem fühlt Putins Russland sich zu Recht vom Westen bedroht – so wie die Bundesrepublik seinerzeit auch eine Bedrohung für die DDR darstellte.
Wäre der Krieg in der Ukraine nicht so blutig, so könnte man ihn als absurdes Theaterstück begreifen, in dem alle Protagonisten überfordert sind, alle an ihren Aufgaben scheitern und ihre eigenen Handlungen nicht begreifen – mit Ausnahme der geschändeten Ukraine.
Im Falle des Kriegsherrn im Kreml ist die Sache einfach: Putin ist verdammt dazu, nur existenzgefährdende Entscheidungen zu treffen und Russland in den Abgrund zu führen, völlig unabhängig vom weiteren Verlauf des Krieges in der Ukraine. Der Widerspruch zwischen den fanatisch verfolgten militärischen Zielen und der Wirklichkeit auf den Schlachtfeldern wird umso größer, je länger der Krieg dauert. Den Krieg vorübergehend aus taktischen Gründen auch nur „einzufrieren“, geschweige denn mit einem gerechten Frieden zu beenden, ist aus Sicht des Kreml faktisch unmöglich: Im friedlichen Wettbewerb kann Putins Russland nicht mit anderen Ländern mithalten. Deshalb greift es zu Mitteln der Gewalt, erkämpft sein „Mitspracherecht“ und erpresserisches Potenzial mit der Verbreitung von Angst und Schrecken.
Denn Putins Russland kann mit Kriegen mehr Macht und Profite gewinnen, als es im Frieden verlieren würde. Putins Russland fühlt sich nicht nur vom Westen erniedrigt, sondern es befindet sich ihm gegenüber objektiv gesehen in einer erniedrigenden Position. Die „softe“ westliche Kultur und Praxis der Kompromisse mit ihren beinahe unbegrenzten Freiheiten ist eben weitaus produktiver und attraktiver als ein Schreckensregime, das die Versklavung oder gar Auslöschung der Nachbarvölker als nicht verhandelbare Staatsdoktrin deklariert und in dem für das öffentliche Vortragen der eigenen Verfassung Gefängnisstrafen drohen.
Angriffskriege stellt Russland als „Befreiung“ dar
Die im Vergleich zu Russland ungeheuer erfolgreiche, innovationsfreudige, nach Fairness strebende Lebensweise des Westens erschafft und verschärft die existenziellen Nöte von Putins Russland. Die „Schuld“ des Westens ist seine ökonomische und kulturelle Attraktivität, seine technologische Überlegenheit, seine Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Russlands Sicherheit wird vom Westen stärker durch Softpower, Popkultur und Heiratstourismus bedroht als von westlichen Armeen, die sowieso nie die Absicht hatten, Russland anzugreifen. Der Westen erniedrigt Russland schon dadurch, dass jahrzehntelang Hunderttausende gut ausgebildete Russen dorthin auswanderten.
Im Westen aber glauben noch immer viele, die eventuelle Nato-Erweiterung in die Ukraine werde von Russland als existenzielle Bedrohung angesehen und sei der ausschlaggebende Kriegsgrund, da Russland ja „eine Geschichte von Invasionen aus dem Westen“ habe, so beispielsweise vor einigen Tagen der US-amerikanische Politologe John Mearsheimer in der NZZ. Die Kritiker dieser Behauptung weisen darauf hin, dass die Nato ein Verteidigungsbündnis sei und Russland niemals militärisch gedroht habe. Und dass Russland selbst oft Invasionen in Nachbarstaaten unternommen habe, häufiger sogar, als es selbst Angriffsopfer gewesen sei. Wobei es die Angriffskriege gern als „Befreiung“ angeblich unterdrückter oder von Genoziden bedrohter russischsprechender Menschen deklariert.
Russland will die Rohstoffe der Ukraine – und die kulturelle Bedrohung beenden
Die Vertreter sowohl der Bedrohungsbehauptung als auch deren Kritiker verstehen aber nicht, dass sie nur auf der Oberfläche der antagonistischen Widersprüche surfen. Eine Nato-Mitgliedschaft oder die faktische militärische Zusammenarbeit der Ukraine mit Nato-Ländern ist nur das Schloss zu dem Tresor, dessen Inhalt Russlands Kleptomanie für sich beansprucht. Der Kampf um die Reichtümer der Ukraine findet lange vor dem Abschluss verteidigungspolitischer Bündnisse statt, obwohl die beteiligten westlichen Protagonisten das nicht wahrhaben wollten und erst mit den Diskussionen über den sogenannten „Rohstoff-Deal“ zwischen den USA und der Ukraine ansatzweise begriffen haben.
Will man Russlands Kriegsgründe verstehen, so muss man auch Russlands ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung studieren – beispielsweise den Wert der Kriegsbeute abschätzen, die Russland mit einem Sieg zu gewinnen hofft, das heißt ukrainische Bodenschätze, Rohstoffe, Wasser für die Krim, Anbauflächen für Getreide, Häfen, Fabriken, Immobilien, Arbeitskräfte.
Zugleich ist der Westen für Russland selbstverständlich eine existenzielle Bedrohung, aber eben keine militärische. Eigentlich sollte man insbesondere in Deutschland den Unterschied zwischen Drohungen und aus objektiv gegebenen Umständen entspringenden Bedrohungen sehr gut verstehen, nämlich aus der Zeit des Kalten Krieges. Vertreter der alten Bundesrepublik haben der DDR nicht gedroht, schon gar nicht mit militärischen Mitteln. Dennoch war für die Existenz der DDR das freie Westdeutschland die schlimmste Bedrohung – aufgrund seiner wirtschaftlichen Attraktivität, seiner Innovationsfreudigkeit, seiner Freiheiten in Kultur, Sport und Kunst, seiner Rechtsstaatlichkeit, insbesondere dem Schutz vor willkürlichen Verhaftungen, die in der DDR an der Tagesordnung waren und in Russland bis heute üblich sind.
Dies gilt auch für den aktuellen Krieg – die Ukraine und der Westen drohten Russland nicht, weder militärisch noch sonstwie, im Gegenteil, sie lieferten an die künftigen Völkermörder sogar fleißig militärische und militärisch nutzbare Mittel und Technik und füllten dessen Kriegskasse mit dem Kauf von Öl und anderen Rohstoffen.
2021 klingelten im Kreml alle Alarmglocken
Wollte der Westen keine Bedrohung für Russland darstellen, so müsste er nur die dortigen Lebensverhältnisse kopieren, die kommunale Infrastruktur und die Kanalisation verrotten lassen, müssten 80 Prozent der Ärzte einen zweiten Job ausüben, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen, müsste man mit Russland um den ersten Platz der Welt bei der Zahl der Selbstmorde unter Älteren und Kindern und in der Disziplin Alkoholismus konkurrieren, und um die hinteren Plätze bei Presse- und Meinungsfreiheit. Westliche Gesellschaften müssten nur genauso viel Korruption zulassen wie in Russland, jährlich mehr als 100.000 erfolgreiche Firmen müssten von Polizisten und Geheimdienstlern genauso leicht enteignet werden können.
Russland müsste sich heute vor der Nato nicht fürchten, wenn die Ausrufung eines äußeren Feindes nicht der „Stabilität“ und Legitimierung von Repressionen im Innern dienen würde. Aber fürchten muss es die Anziehungskraft der Gewaltenteilung und sozialen Marktwirtschaft. Je besser die Ukraine in die europäischen Wirtschaften und Rechtspraktiken integriert wird, desto schlimmer für Russlands diebische Elite. Spätestens als die EU und die Ukraine im Jahr 2021 ihren Green Deal abschlossen, klingelten im Kreml alle Alarmglocken.
Mit der Umsetzung dieser strategischen Energiepartnerschaft und Rohstoffallianz wäre Russlands wichtigstes Geschäftsmodell, der Verkauf fossiler Brennstoffe und Energieträger, in absehbarer Zeit stark gefährdet worden. Der Green Deal mit dem Ziel klimaneutralen Wirtschaftens und Wohnens sollte auch die Abhängigkeit westlicher Volkswirtschaften von Seltenen Erden und strategisch wichtigen Rohstoffen aus China verringern. Deshalb hat China knallharte Gründe, den Eroberungskrieg Russlands zu unterstützen. Auch würde die Umsetzung dieses Vertragswerks der Ukraine Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, die gefährlich für Russland wären, weil beide Volkswirtschaften direkte Konkurrenten auf wichtigen Märkten sind, so im Rohstoff- und Getreidesektor. Außerdem diente die Ukraine lange Zeit dem kriminellen Kapital aus Russland als ideale Geldwaschmaschine, in die westliche Kontrolleure und Analytiker keinen Einblick hatten. Im Westen kennt kaum jemand die ökonomischen Verflechtungen zwischen beiden Ländern, die oft in kriminellen Schattenreichen geknüpft werden.
Es ist nicht „Putins Krieg“
Wohl in jeder ukrainischen Stadt östlich des Dnipro besaßen russische Generäle und Geschäftsleute über Strohmänner und Verwandte mit ukrainischen Pässen bis zu Beginn der Invasion enorme Reichtümer an Immobilien, Hotels, Restaurants und Firmen. Im Zentrum der Stadt Poltawa (300.000 Einwohner) beispielsweise gehörte der Familie des russischen Generaloberst Waleri Kapashyn Eigentum im Wert von einer Milliarde Griwna (etwa 25 Millionen Euro).
Der General unterstützte seit der Unabhängigkeit des Landes alle Bürgermeister von Poltawa finanziell, besonders wenn Wahlen stattfanden, erklärt der Aktivist Ihor Holovaty, der die kriminellen Machenschaften aufdeckte. „Und jeder neu gewählte Bürgermeister – und es gab nur vier an der Zahl – musste seinem russischen Sponsor danken.“ Es gab in Poltawa auch noch weitere Staatsbürger Russlands, die man als heimliche Oligarchen bezeichnen kann und die Gewinne aus ihren Unternehmen über die grüne Grenze zwischen beiden Ländern transferierten und beispielsweise für den Bau von Unterkünften für russische Armeeangehörige verwendeten. Seit Beginn der Invasion wird das Eigentum solcher „Wanderer zwischen zwei Welten“ vom ukrainischen Staat systematisch beschlagnahmt.
Die im Westen populäre Personalisierung objektiv gegebener Zwänge und unüberbrückbarer gesellschaftlicher Widersprüche führt auch die Kräfte der Vernunft beständig in die Irre. Es ist nicht Putins Krieg, wie im Westen häufig verkürzt gesagt wird, sondern es sind etliche Millionen Menschen in Russland, die in der Kriegswirtschaft arbeiten und den Krieg begeistert unterstützen.
Im Westen wünscht sich eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler konstruktive, auf Interessenausgleich bedachte Beziehungen zu Russland. Mit Putins Russland ist das jedoch nicht möglich – nicht weil Politikern der Wille oder der Mut zur Verständigung fehlt, sondern aufgrund sich ausschließender Interessen.