Bei einer Spendengala der demokratischen Partei im Juni 2024 erkennt US-Präsident Joe Biden den Hollywoodschauspieler und Organisator George Clooney nicht. Bidens Berater denken angesichts der zunehmenden Gebrechlichkeit des Kandidaten darüber nach, ihn in einen Rollstuhl zu setzen – aber erst nach der Wahl. Derweil kommunizieren die Kabinettsmitglieder schon lange nicht mehr direkt mit dem Präsidenten. Denn der wird von Mitgliedern seines engsten Zirkels abgeschirmt.

So beschreiben es der CNN-Moderator Jake Tapper und der Politikreporter des Portals Axios Alex Thompson in ihrem Buch „Original Sin“ (Ursünde), das schon, da in Auszügen bekannt, vor seinem offiziellen Erscheinen am 20. Mai einen Mediensturm ausgelöst hat.

Wanderte Biden desorientiert herum?

Schlagzeilen macht das Buch, das nach Angaben der Autoren auf Interviews mit mehr als 200 Insidern basiert, nicht nur wegen seiner Enthüllungen über den gesundheitlichen Verfall Joe Bidens zwischen 2020 und 2024 und die Bemühungen von Bidens Team, dies vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Sondern auch, weil die prominenten Autoren vor allem vonseiten der Rechten bezichtigt werden, sie hätten selbst an der „Vertuschung“ mitgewirkt und wollten nun auch noch damit Geld verdienen.

Der Vorwurf ist etwas überzogen, trifft aber einen wahren Kern. Nach mehreren Stürzen und eigenartig verwirrten Momenten bei Auftritten bereits 2022 und 2023 stand die Frage nach Bidens Gesundheitszustand spätestens seit Jahresbeginn 2024 offen im Raum. Der Late-Night-Talker Jon Stewart scherzte in der „Daily Show“ Mitte Februar 2024 über die spektakulären Fehlzündungen bei Bidens Versuchen, Zweifel an seiner mentalen Frische auszuräumen. Im April ulkte Stephen Colbert mit Blick auf Bidens rhetorisches Kauderwelsch bei den Osterfeierlichkeiten im Weißen Haus, der Präsident sei „fraglos geistig fit“ für weitere vier Jahre.

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Das sollte witzig sein, war es aber nicht. Denn all dies spielte sich inmitten eines historischen Wahlkampfs zwischen zwei alten Männern ab, deren Teams das jeweils andere der Propaganda bezichtigten. Als „cheap fakes“ bezeichnete das Weiße Haus in diesen Tagen Videos, auf denen Biden, etwa beim G-7-Treffen im Juni 2024, orientierungslos aus dem Bild zu wandern schien und die in den sozialen Netzwerken und in konservativen Medien zirkulierten.

Die „New York Times“ meinte nachweisen zu können, dass die Wahl der Bildausschnitte in diesen Videos manipulativ sei. Man bezwecke damit, so das Blatt, „unter Auslassung wichtiger Zusammenhänge banale Momente zu einem unvorteilhaften Bild zu verzerren“. Linksliberale Medien empörten sich über diese „Verzerrung“ ebenso wie über die Einschätzung des Sonderermittlers Robert Hur vom Februar 2024, Biden sei ein „wohlmeinender alter Mann mit schwachem Erinnerungsvermögen“.

Als im „Wall Street Journal“ schließlich Anfang Juni ein Artikel über Bidens angegriffene geistige Verfassung erschien, brach ein medialer Entrüstungssturm los. Einen Monat später war dann alles ganz anders, da forderte die „Washington Post“, Biden müsse von seiner Präsidentschaftskandidatur zurücktreten.

Was für iranische Ukrainer?

Jake Tapper war Ko-Moderator der Kandidaten-Debatte vom 27. Juni 2024, bei der Bidens Verwirrung endgültig offenbar wurde. Zwar hatte Tapper den Präsidenten und andere demokratische Politiker zuvor mehrfach damit konfrontiert, es gebe Bedenken wegen Bidens Alter und seiner geistigen Fitness. Aber er hatte in seiner Rolle als CNN-Anchor auch rundheraus die Behauptungen von rechts zurückgewiesen, Biden sei nicht mehr in der Lage, sein Amt auszuüben.

Sein Buch erfährt ein zweispältiges Echo: Jake TapperSein Buch erfährt ein zweispältiges Echo: Jake TapperAndy Kropa/Invision/AP

Dass nun ausgerechnet Tapper ein Buch über „Präsident Bidens Verfall, die Vertuschung und seine desaströse Entscheidung, noch einmal zu kandidieren“ (so der Untertitel), herausbringt, ist eine Steilvorlage für Trump-Fans, MAGA-Kommentatoren und die rechte Presse. In sozialen Medien kursiert ein Video mit Aufnahmen von Tapper, in denen er Behauptungen, Joe Bidens Gesundheit schwinde, zurückweist.

In einer CNN-Sendung vom Oktober 2020 quittiert er die Behauptungen von Trumps Schwiegertochter Lara, bei Biden sei ein „kognitiver Abbau“ zu beobachten, mit Augenrollen und einem ungeduldigen „Okay“. „Sie machen sich offenbar über sein Stottern lustig“, sagt er zu Lara Trump und: „Sie sind nicht qualifiziert, einen kognitiven Abbau zu diagnostizieren.“

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In einem anderen Clip urteilt Tapper über Bidens Rede vom März 2022, in der dieser sagte: „Putin mag Kiew mit Panzern einkreisen, aber er wird niemals die Herzen des iranischen Volks gewinnen“, die Rede sei „angesichts von Bidens rhetorischen Talenten und Herausforderungen eine ziemlich solide Performance“ gewesen. Das nimmt sich nicht erst heute ziemlich lächerlich aus.

Ein schweres Versäumnis der Medien

Die „New York Post“ und der „Federalist“ griffen das Video und die wütenden Kommentare dazu umgehend auf. Auf der Rechten ist der Spott über die „plötzliche rechtschaffene Entrüstung“ auf der Linken groß. Tapper und Thompson versuchten eine „Revision der Geschichte“, heißt es ausgerechnet bei Fox News, wo man seine Zuschauer immerhin bewusst über den Wahlausgang 2020 belog. Angesichts von Tappers Buch spricht man hier vom „nicht wiedergutzumachenden Vertrauensverlust“ in die traditionellen linksliberalen Medien.

Dass das virale Tapper-Video zum Teil manipulativ geschnitten ist – Tapper scheint hier die Darstellung des „Wall Street Journals“, Bidens mentale Fitness sei im Niedergang begriffen, als „falsch“ zu bezeichnen; tatsächlich zitierte er das Weiße Haus –, dient der Erzählung, Tapper habe gezielt an der „Vertuschung“ von Bidens Gesundheitszustand mitgewirkt.

„Bevor er von der Medienverschwörung profitierte, Bidens Verfall zu verschleiern, war Jake Tapper an ihrer Verbreitung beteiligt“, schreibt der Autor des Videos. Das ist eine dramatischere Fassung der Dinge als die nüchterne Erkenntnis, dass die linksliberalen Medien in dieser Frage ein schweres Versäumnis einräumen mussten. Was sie nach Bidens Rückzug von der Kandidatur prompt taten und sich vorsichtig selbst prüften. „Machten sich die Medien mitschuldig daran, Bidens Probleme zu verstecken?“, fragte etwa CNN.

Die vorab gedruckten Auszüge aus dem Buch sind eine harte Anklage gegen Biden und seine Berater, aber auch gegen ihre Helfer in den linksliberalen Medien, die jede professionelle Skepsis fahren ließen, um nicht Trump zu stärken. Anstatt sich mit der Enthüllung eines Skandals zu brüsten, wie es offenbar die Medienstrategie des Buchverlags ist, stünde es den Journalisten Tapper und Thompson besser an, das Problem in den Zusammenhang einer polarisierten Medienlandschaft zu stellen – und einzuräumen, dass man es sich aufseiten der linksliberalen Medien zu einfach gemacht hatte, die Klage über Bidens Alterserscheinungen als Pro-Trump-Propaganda abzuweisen.

Tapper räumt in einem CNN-Gespräch denn auch ein, dass „einiges von der Kritik an mir fair ist“. Er blicke mit Demut auf diese Zeit zurück. Obwohl er sich in seiner Berichterstattung mit Bidens Gesundheit befasst habe, „war es nicht genug“.