Misophonie, das ist eine Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Geräuschen: Kauen, Schlucken, Atemzüge. Für manche ist es ein unterschätzter Leidenszustand, für andere eine Hypersensibilität der Moderne. Dana Vowinckel hat die englische Übersetzung ihres Debütromans „Gewässer im Ziplock“ so genannt. „Misophonia“ ist gerade in den USA erschienen. Die fünfzehn Jahre alte Margarita bewegt sich darin durch einen Sommer zwischen Chicago, Berlin und Jerusalem; überfordert, hypersensibel, oft allein. Sie ist ein Teenager im Transit, ihre Reizoffenheit ein Marker für den Zustand Pubertät, die Phase, in der alles zu laut ist, das Urteil der anderen, der eigene Körper, die Welt.
Im Deutschen Haus der New York University sitzt Vowinckel Mitte dieser Woche neben dem Übersetzer Adrian Nathan West und sagt über die Geräusch-Phobie: „Ich habe das auch. Meine Mutter übrigens auch. Und Margarita eben auch. Es ist mehr Vererbung als Erziehung.“ Es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten mit ihrer Protagonistin – auch Vowinckel hat deutsch-amerikanische Eltern, ist Jüdin, verbrachte Teile ihrer Kindheit in Chicago – dennoch ist der Roman nicht autobiographisch angelegt.
Familie zwischen Kontinenten
Die Berlinerin Margarita besucht im Buch zunächst ihre Großeltern in Chicago, denen gegenüber sie sich viel fremder fühlt als in der Kindheit. Die getrennten Eltern überreden sie, Zeit mit ihrer Mutter in Israel zu verbringen, die sie kaum kennt. Dabei wird nichts verallgemeinert, Margarita ist keine Generations-Abziehfolie. Sie und ihr Vater Avi, Kantor in einer Synagoge, kommen abwechselnd zu Wort, aus ihrer Binnenperspektive entwickelt sich die Geschichte. Und Mutter Marsha, Wissenschaftlerin mit Wohnsitz Jerusalem, bleibt jenseits klassischer Rollenmuster. Sie spricht viel, doch ihr Innenleben bleibt uns verschlossen.
Es liegt nahe, dass Vowinckel als Erstes die Fünfzehnjährige entwickelte, doch der Vater, Kantor Avi in der Identitätskrise, habe zuerst Gestalt angenommen, sagt sie. Mit einer Freundin habe sie sich gefragt, was ein sympathischer Synagogen-Musikdirektor eigentlich sonst so treibe. Daraus sei die Idee für den Anfang des Textes entstanden, der beim Bachmann-Preis 2021 ausgezeichnet wurde. Sie sei nicht sehr religiös, habe sich aber beim Schreiben vom Rhythmus der Gebete inspirieren lassen, die Avi rezitiert, erzählt die Autorin.
Viele Dialoge habe sie auf Englisch geschrieben und für die deutsche Fassung rückübersetzt. West wiederum, der selbst auch Schriftsteller ist, habe in der Übersetzung etwas Eigenständiges geschaffen. Das merkt man etwa, wo ein Begriff wie „fremdeln“, kaum übertragbar, mit dem englischen Wort „antagonizing“ eine zusätzliche, etwas aggressivere Bedeutung bekommt. Was das Buch in der englischen Fassung leisten muss, ist aber nicht nur eine Übertragung. Es ist, betonen Autorin und Übersetzer, eine Kontextverschiebung. Jüdische Gegenwartsliteratur wird in Deutschland oft als politischer Kommentar zur Erinnerungskultur gelesen. „Misophonia“ bewegt sich dagegen im amerikanischen Raum näher an der realistischen Familiengeschichte.
Albtraum Deutschland?
Um solche kulturellen Übersetzungsleistungen geht es dann auch in New York. Ob es nicht ein Albtraum gewesen sei, als Jüdin in Deutschland aufzuwachsen, will ein amerikanischer Zuschauer wissen. Ja und nein, sagt Vowinckel – als jüdischer Teenager in einem Gymnasium mit lauter Nichtjuden Holocaust-Gedenkstätten zu besuchen, könne sie natürlich „nicht empfehlen“. Doch Deutsche wie Amerikaner irrten, wenn sie annähmen, dass es keine lebendigen jüdischen Gemeinden gebe – ganz so, wie sie es auch im Buch schildert. In Kreuzberg, wo ihre Synagoge ist, sei es kürzlich sogar Zeit für einen neuen Kindergarten gewesen. Diese Normalität, die auch im Roman durchscheint, wurde jedoch am 7. Oktober mit Wucht zerstört, sagt Vowinckel.
Ihr literarisches Debüt, das sie für eine einigermaßen realistische Gegenwartsbeschreibung hielt, habe sich von einem Tag auf den anderen angefühlt wie ein Relikt, bestenfalls ein historischer Roman. Vieles, was darin über die israelische Gesellschaft zu lesen sei, sei vorbei – der Besuch von Mutter und Tochter im Westjordanland etwa wäre heute nicht mehr möglich. Ihre Protagonistin Margarita befasst sich aber nur an ganz wenigen Stellen mit Politik, als Fünfzehnjährige hat sie noch keine fertige Meinung.
Vowinckel erzählt, wie sich auch die Rezeption ihres Buches nach dem 7. Oktober verändert habe, wie sie selbst immer wieder aufgefordert wurde, Stellung zu beziehen. Schlimm sei gewesen, dass es auf der Frankfurter Buchmesse 2023, kurz nach der Attacke auf jüdische Israelis, keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen gab. Genauso war sie aber auch gegen die Verschiebung der Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli bei der Messe, sie beteiligte sich an einer Solidaritätslesung.
Inzwischen sind anderthalb Jahre vergangen, und der Krieg in Gaza geht mit deutscher und amerikanischer Unterstützung weiter. „Misophonia“ ist zu wünschen, dass es in Amerika nicht als Kommentar oder Nicht-Kommentar dazu gelesen wird, sondern als Roman über das Leben einer jungen Frau und einer Familie zwischen verschiedenen Identitäten. Dabei dürfte eine weitere Verschiebung der Wahrnehmung stattfinden, die sich in der Übersetzungsleistung spiegelt. Für viele Deutsche, zumal außerhalb der Metropolen, sei jüdisches Leben trotz seiner Vielfalt immer noch „exotisch“, sagt Vowinckel – daher gab es in der ersten deutschen Ausgabe auch ein Glossar, später ein Online-Glossar. Für amerikanische Leser werde es nun aber weniger das Judentum sein, sondern das Leben in Berlin, das unbekannt und „exotisch“ sei.