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Was vom Lesen übrigblieb: Viele Bücher rufen Vergangenes in die Gegenwart zurück – hier bereits in einem Antiquariat.Bücherschreiben kann sich auszahlen. © IMAGO/H. Tschanz-Hofmann

Für ein Buch kann man vom Verlag sechsstellige Summen bekommen, mehr als für ein Textlein im Internet.

Wenn dieser Text ein Buch wäre, hieße es „Dieses Buch ist zu lang“. Die Einleitung würde davon handeln, wie oft Bücher mit dem Argument kritisiert werden „This book should have been a blog post“, „dieses Buch wäre besser nur ein Blogbeitrag gewesen“. Die Autorin würde dem Phänomen einen Namen geben oder behaupten, dass der Name schon existiert, sagen wir „SHBABP“, wegen der Spam-Assoziation. Dann käme eine Auflistung einigermaßen bekannter Bücher, denen schon mal jemand diesen Vorwurf gemacht hat. Am Ende der Einleitung stünde die Frage, ob irgendwas mit der Buchbranche nicht stimmt und die meisten Bücher wirklich besser ein Blogbeitrag geblieben wären. Oder stimmt mit uns, den Lesenden, was nicht? Hat das Internet unsere Aufmerksamkeitsspanne ruiniert und wir können gar nicht mehr erkennen, warum seriöse Bücher eben doch 300 Seiten haben müssen?

Kapitel 1 ist ein langweiliger historischer Abriss, der die Frage zu klären versucht, ob die Menschen, bevor es Blogs gab, in ihren Rezensionen schrieben: „Dieses Buch wäre besser ein Essay geblieben.“ Liest niemand, wir blättern gleich vor zu Kapitel 2, in dem ein bisschen differenziert wird: Bei Romanen beklagt sich selten jemand darüber, dass sie zu lang sind. Wenn, dann geht es um moderate Kürzungen, nicht darum, dass 3 Seiten insgesamt gereicht hätten. Wissenschaftliche Bücher werden auch selten zu lang genannt, wobei es sein könnte, dass die Rezensierenden das zwar heimlich denken, sich aber nicht trauen, es öffentlich zuzugeben. Es sind vor allem populärwissenschaftliche Bücher und Selbsthilfebücher, die den SHBABP-Vorwurf auf sich ziehen.

Hier schreibt Kathrin Passig jede Woche über Themen des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin des Blogs „Techniktagebuch“. www.kathrin.passig.deHier schreibt Kathrin Passig jede Woche über Themen des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin des Blogs „Techniktagebuch“. www.kathrin.passig.de © downloads.normanposselt.com/copyright.pdf

Das scheint erst mal dagegen zu sprechen, dass es an unseren vom Internet zerrütteten Köpfen liegt. Kapitel 3 versucht diese Frage mit Hilfe von vielen Studien zur Aufmerksamkeitsspanne zu klären, bei denen unterschiedliche Ergebnisse herauskommen. Fazit: Kann sein, kann auch anders sein.

Ist vielleicht doch die Buchbranche schuld? Kapitel 4 beleuchtet die wirtschaftlichen Hintergründe. Bücher sind keine Blogbeiträge, weil sich Bücher leichter verkaufen lassen. Für das Schreiben kann man vom Verlag sechsstellige Summen bekommen. Das hat damit zu tun, dass Lesewillige eher bereit sind, 20 bis 40 Euro für ein Buch auszugeben als für ein Textlein im Internet, das man sich nach dem Lesen gar nicht ins Regal stellen kann. Und damit diese 20 bis 40 Euro gerechtfertigt wirken, sollte der Einrichtungsgegenstand mindestens 200 Seiten haben. Blogbeiträge haben außerdem selten zur Folge, dass man als Autorin zu Vorträgen eingeladen wird – jedenfalls nicht zu gut bezahlten. Der Weg vom Schreiben im Internet zu lukrativen Vorträgen führt immer noch über die Zwischenstation: Veröffentlichen von Büchern.

In Kapitel 5 wird darüber nachgedacht, was die richtige Inhaltsmenge für ein Buch ist. Das Äquivalent von zwei Blogbeiträgen? Zehn? Hundert? Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Lesegewohnheiten – manche lesen sowieso nur das eine Kapitel, das sie interessiert, und blättern den Rest allenfalls kurz durch. Für diese Zielgruppe ist es gut, wenn alles Wichtige in jedem Kapitel noch mal gesagt wird. Für langsam lesende und vergessliche Menschen auch. Andere, die an einem Tag alles von der ersten bis zur letzten Seite lesen, ärgern sich, wenn sie denselben Gedanken mehr als einmal vorfinden.

Dann kommt das unvermeidliche Kapitel darüber, dass und wie sich das alles durch Künstliche Intelligenz ändern wird. Auf mindestens zwei Arten: Lange Bücher lassen sich mit Hilfe großer Sprachmodelle kurz zusammenfassen, und kurze Blogbeiträge beliebig lang auswalzen. Beides gibt es zwar schon etwas länger: Das Zusammenfassen in Form von kostenpflichtigen Diensten wie Blinkist oder getAbstract, die populärwissenschaftliche Bestseller für Menschen mit wenig Zeit zusammenkürzen. Das Auswalzen auf Buchlänge wurde in den meisten Fällen von den Autorinnen oder Autoren der Originalbeiträge selbst erledigt. Aber jetzt lässt sich eben beides automatisieren. Welche Folgen hat das für die Zukunft? Schreckliche, weil … das überblättern wir jetzt wieder, steht ja sowieso überall. Oder doch nur semi-schreckliche, weil sich die Bücher leichter an die unterschiedlichen Leseweisen aus dem vorigen Kapitel anpassen lassen?

Das Buch endet mit praktischen Empfehlungen: Wenn man sich für die Arbeit schreibender Menschen interessiert, kann man sie auch anders als durch den Kauf von Büchern unterstützen. Zum Beispiel bei Crowdfunding-Plattformen wie Patreon oder Steady, dann müssen sie keine SHBABP-Bücher schreiben. Oder man abonniert eine Zeitung, die die Autorin als Kolumnistin beschäftigt. Dann wird die Autorin zwar nie zu Vorträgen über ihr Sachbuch „Dieses Buch ist zu lang“ eingeladen. Sie spart aber auch viel Zeit, weil sie statt des Buchs nur eine kurze Kolumne zu schreiben braucht. Und alle anderen sparen Zeit beim Lesen.