Zweimal Letzter, einmal Vorletzter, einmal Mittelfeld: Freunde des Eurovision Song Contests konnten in den vergangenen Jahren Trauer tragen, wenn sie an die deutschen Platzierungen dachten. Einer wollte das nicht länger mit ansehen: Stefan Raab machte den deutschen ESC-Auftritt in diesem Jahr breitbeinig zur „Chefsache“. Sechsmal war er schon am Eurovision Song Contest beteiligt, 2010 führte er Lena Meyer-Landrut mit „Satellite“ zum Sieg, nie schnitt er schlechter als Platz zehn ab.
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Nach seinem TV-Comeback im vergangenen Jahr wollte er es nun auch auf der europäischen Showbühne noch einmal wissen. Dabei hat RTL gerade erst seine Sendung „Du gewinnst hier nicht die Million“ wegen Erfolglosigkeit abgesetzt. Ist Stefan Raab noch ein Hoffnungsträger?
In einem Bestattungsinstitut im schicken Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg haben sie diese Frage schon beantwortet, ehe am Samstagabend die Live-Übertragung aus Basel beginnt. Unter dem Motto „Deutschlands ESC-Hoffnungen zu Grabe tragen“ hat die Firma Memovida zum wohl morbidesten der vielen Public Viewings in der Hauptstadt geladen. Wer nicht auf Särgen sitzen möchte, solle seinen Stuhl selbst mitbringen, heißt es in der Ankündigung. Getränke und Snacks werden ebenso wenig gestellt, dafür seelsorglicher Beistand: „Taschentücher und Trauerbegleitung gibt es vor Ort.“
Zwei Särge, helle Kiefer, Disco-Beleuchtung
Wer die Räume betritt, riecht gleich frisches Holz. Zwei lange Särge, helle Kiefer, liegen quer auf dem Boden. Disco-Beleuchtung wirft bunte Farbtupfer auf Wände, Särge, Menschen. Ein Dutzend Leute ist der Einladung gefolgt. Unter ihnen: die Freundinnen Francesca Kühlers und Penninah Jones.
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„Ich fand die Idee mit dem sogenannten Public Viewing super lustig“, sagt Kühlers, die wie ihre Freundin aus den USA stammt. „Anfangs war es ein bisschen unheimlich, aber ich habe es mir vorgenommen, mich mehr mit dem Tod zu befassen, weil es ein Bestandteil des Lebens ist“, sagt Kühlers und fügt hinzu: „Jetzt, da ich gerade 40 geworden bin.“ Beim ESC fiebert sie mit Schweden mit. Anders als ihr Mann, der zu Hause auf die Kinder aufpasst. „Er hofft, dass Deutschland überhaupt Punkte gewinnt.“
Penninah Jones hält Tod und Bestattung für Themen, die mehr Humor gut gebrauchen könnten. „In meiner Familie wird auch auf Trauerfeiern das Leben gefeiert.“ Trauerfeiern. Ist es auch um den diesjährigen deutschen Beitrag so schlecht bestellt? Die Wettanbieter trauen dem Song „Baller“ des Duos Abor & Tynna irgendwas zwischen Abgesang und Auferstehung zu.
Memovida-Geschäftsführerin Katia Lübbert öffnet inzwischen einen der Särge aus unbehandeltem Kiefernholz. Die seien für Kundinnen und Kunden zu Anschauungszwecken da, erzählt sie. Es handelt sich um Kremationssärge in der einfachsten Aufführung. Innen sind sie mit weißem Stoff ausgekleidet. Dazu gibt es ein Kissen, eine Bettdecke und ein Sterbehemd.
Das Unternehmen ist im Februar aus Kreuzberg nach Prenzlauer Berg gezogen. Die Idee zum Public Viewing sei spontan entstanden. „Wir wollten Leben reinholen“, sagt Lübbert, „dass die Nachbarn uns kennenlernen und ihre Angst vor dem Tod verlieren.“ Der Beamer projiziert den israelischen Auftritt auf die Wand. Im Lied von Yuval Raphael, die das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 überlebt hat, geht es ums Weiterleben, darum, ins Leben zurückzukehren. Eine Frau öffnet die Tür und schaut kurz hinein. „Ich glaube, das ist die falsche Party“, sagt sie schließlich und zieht sich wieder zurück.
Kremationssärge in der einfachsten Ausführung, darauf QR-Codes: Bestatterin Katia Lübbert sammelt Lieblingslieder für Beerdigungen.
© Cristina Marina
Lübbert weiß, dass ihre Herangehensweise unkonventionell ist. „Wir haben auch schon mal Fotos von uns auf den Särgen gemacht, das fanden manche pietätlos“, sagt sie. Diese Meinung könne sie durchaus verstehen. Ihr wichtigstes Anliegen sei jedoch, bei den Menschen die Berührungsängste abzubauen. „Ich habe das Gefühl, dass hierzulande zum Teil eine falsche Vorstellung von Würde herrscht.“ Über QR-Codes auf Zetteln, die im Raum ausliegen, können die Gäste ihr Lied angeben, das sie sich für die eigene Bestattung wünschen. Lübbert will später daraus eine Playlist machen.
Generation True Crime: ESC zwischen Tod und „Spaßevent“
Endlich ist Deutschland an der Reihe. „Kreidesilhouetten auf dem Trottoir, zwischen uns ein Tatort wie bei CSI“, singt Tynna. „Hast ‚Baby tut mir leid‘ gesagt zum ersten Mal, hätt’ wissen soll’n, dass das das Ende von uns war.“ Auch ganz schön morbide. Beifall in Basel, Jubel im Bestattungsinstitut.
Sebastian, Sabine und Benedikt sind etwas später eingetroffen. Sie waren zuerst in einem Pub, da sei es einfach zu laut gewesen, sagt Sebastian. Dann fiel ihnen ein, dass sie an der Tür des Bestatters vom Public Viewing gelesen hatten. Sabine findet gerade das „Kuriose“ an der Location passend: „Ich glaube nicht, dass irgendjemand ESC noch mit Ernsthaftigkeit guckt.“ Es sei ein „Spaßevent“. Das Morbide störe sie nicht. „Vielleicht weil ich zur Generation gehöre, die mit True-Crime-Serien groß geworden ist.“
WG-Party beim Bestatter. Der ESC ist oft kurios, in Berlin ist er noch etwas kurioser.
© Cristina Marina
Nach dem schwedischen Beitrag wird beim Bestatter noch lauter geklatscht als zuvor nach dem deutschen Act. Die ersten Gäste haben sich mittlerweile direkt auf die Särge gesetzt. Die sind auch einfach praktisch, um seinen Drink abzustellen. Die Geisterstunde naht. Einige machen sich auf den Heimweg, ohne das Ergebnis abzuwarten. 37 Jury-Voten ziehen sich einfach hin. Eine Bierflasche ist auf dem Boden umgekippt, es sieht immer mehr nach WG-Party aus.
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