Alte Traditionen, unverfälschter Geschmack: Eine neue Generation von Winzern kehrt zurück zu den Wurzeln des Weins. Die Pioniere fanden in Köln eine neue Heimat. Doch nicht jeder freut sich über die Rebellen am Rhein. Ein Streifzug durch die Gemeinde.
Pauline Ipfelkofer schenkt zwei Gläser des in Fachmedien gefeierten Weines „Frauenpower“ der kanadisch-deutschen Winzerin Alanna LaGamba ein. Hier, im Herzen von Köln-Ehrenfeld, wo nicht selten ein Trend ein wenig früher ankommt, hat sich die 28-Jährige in ihre Weinstube „Frohnatur“ auf Naturwein spezialisiert. Früher war hier eine Gaststätte mit Kegelbahn. Die Kegelbahn gibt es noch, vom alten Kölsch-Kneipen-Charakter dagegen ist nicht mehr viel übrig. Gäste betreten häufig das Lokal, ohne zu wissen, was Naturwein ist. Nicht selten ist Überzeugungsarbeit nötig.
Hier und anderswo wächst aber offenbar die Zahl der Überzeugungstäter: Inzwischen werden in Deutschland pro Jahr 2,5 Millionen Liter Naturwein hergestellt. Während der Gesamtmarkt an deutschen Weinen im ersten Halbjahr 2023 um 11,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum schrumpfte, konnte Naturwein sein Niveau halten und so Marktanteile gewinnen. Diesen Wachstumskurs von Naturwein beobachtet Gergely Szolnoki bereits seit einigen Jahren, er ist Professor an der Universität Geisenheim. „Zwischen 2010 und 2022 erlebten wir weltweit einen Boom von Naturweinen“, sagt Szolnoki, „in den vergangenen Jahren hat sich die Entwicklung allerdings etwas verlangsamt.“ Laut dem Forscher ist die Klientel, die Naturwein konsumiert, etwa Mitte 20, verdient gut und ist offen für Neues – Ehrenfelder Klientel eben. In der Generationsrhetorik wären das die Millennials.
Doch was sie und ihre Anhängerschaft als unverfälschten Genuss propagieren, stößt dem Wein-Establishment zuweilen sauer auf. Beleidigt reagieren manche alteingesessene Winzer auf die Abkehr von ihren über Jahrzehnte verfeinerten Methoden für den An- und Ausbau ihrer Weine.
Der Winzer
Die Zahl der Naturwein-Fans steigt dennoch. Einer, den Ipfelkofer schon lange kennt, ist Max Dexheimer. Zwei Stunden von Köln entfernt steht er in seinem Weinkeller. Es riecht modrig, auf dem Boden bildet das Grundwasser Rinnsale. „So muss es aussehen“, sagt der 32-jährige Winzer aus Saulheim, knapp 18 Kilometer von Mainz entfernt mitten in der Weinregion Rheinhessen. Dexheimer saugt mit einem Schlauch Weißwein aus einem Holzfass und befüllt ein Glas. Er nimmt einen kleinen Schluck, probiert – und kippt den Rest zurück ins Fass. Ein Jahr lang muss sich der Wein noch bis zur Marktreife entwickeln.
Dexheimer ist einer von nur etwa 130 Naturwein-Produzenten in Deutschland. Die Winzer sind meist jung und grenzen sich entschlossen von der gängigen Weinkultur ab. Der Unterschied beginnt bereits beim Anbau der Trauben. Die Bewirtschaftung der Reben nach Bio-Standards ist für Naturwein-Produzenten Pflicht. Dexheimer verwendet kaum Pflanzenschutzmittel – weniger als im Bio-Weinbau erlaubt, sagt er. Die Trauben pflückt er gemeinsam mit seinen Helfern mit der Hand. In den Holzfässern im Keller reift der Wein zusatzfrei. Konventionelle Winzer setzen meist beim Ausbau chemische Stoffe hinzu, wie zum Beispiel Schwefel. Für Dexheimer ist das nur im Notfall und in geringen Mengen eine Option: „Das mache ich nur, wenn ich merke, dass der Wein sonst nichts wird.“
Gelernt hat Dexheimer an der renommierten Hochschule des deutschen Weinbaus in Geisenheim. Sein Vater ist Winzer, genauso wie sein Großvater. Der Nachwuchs aber möchte alles anders machen. Er kehrt zurück zu den Traditionen seines Ur-Urgroßvaters. Und stellt den Wein auf dieselbe Weise her, wie dieser es vor 130 Jahren einmal tat. Auch seine Freunde von der Hochschule Geisenheim besinnen sich zurück auf ihre Vorfahren. Damit haben sie Erfolg: Ihre Weine stehen auf den Karten von einigen der besten Restaurants in New York, Tokio und Kopenhagen. In Deutschland ist das Produkt noch eher unbekannt. Meist sind die Hauptgegner der rebellischen Winzer sogar die eigenen Eltern. So ist es auch bei Max Dexheimer. Und das trotz des Erfolgs des Juniors. „Die haben das eben ihr ganzes Leben anders gemacht“, sagt er verständnisvoll. Es gehe ihm auch nicht ums Missionieren. Jeder solle das trinken, was ihm schmeckt. Für ihn ist es der Naturwein.
Die Herstellung von Naturwein ist deutlich aufwendiger. „Mein Vater macht noch konventionellen Wein. Wenn wir müde von der Handlese kommen, ist er mit der Maschine schon fertig und sitzt beim Abendessen.“ Der zusätzliche Aufwand schlägt sich in den Preisen nieder. Der Riesling des Seniors kostet 7,90 Euro. Der Junior verkauft seinen Riesling für 18,90 Euro – mehr als das Doppelte.
Und der Geschmack? Da scheiden sich die Geister. Manche sind begeistert, andere verschmähen das Getränk. Häufig hat Naturwein weniger Fruchtaromen. Dexheimer beschreibt den Unterschied am liebsten in Bildern. „Wenn ich den Wein meines Vaters trinke, denke ich an einen strukturierten Garten“, sagt er. Bei seinem eigenen Wein komme ihm ein Sonnenuntergang in den Sinn. Er sehe dann das Meer, vielleicht eine Insel am Horizont und einen Flusslauf. „Der Blick in den Garten ist auch schön, aber eben nur 20 Meter weit.“
Entspannt blickt Dexheimer auf die Zahlen. „Innerhalb von Minuten war unsere erste Naturweinlinie ausverkauft“, sagt er. 99 Prozent verkaufe er ins Ausland. Der deutsche Markt sei schwierig. „In Ländern, die keine große Weintradition haben, ist es meist einfacher für uns zu verkaufen“, sagt Dexheimer. Ein Drittel geht nach Japan. „Aus irgendeinem Grund passt der Wein super zu japanischem Essen.“
Die Händlerin
Zurück nach Köln, zu Besuch bei Surk-ki Schrade. Die 55-Jährige ist eine Pionierin des Naturweins. Vor 16 Jahren hat sie das Thema in Deutschland auf die Agenda gebracht, sie hat auch ein Buch über Naturwein geschrieben. An diesem Freitagmittag sitzt sie vor ihrem kleinen Laden in einer ruhigen Nebenstraße – natürlich auch in Ehrenfeld. Ein Raum, Weinflaschen mit bunten Etiketten sind an der Wand befestigt. Schrade, wilde dunkle Locken, ist ganz in Schwarz gekleidet. Sie raucht eine selbstgedrehte Zigarette und ist schnell beim Du. Mit ein paar Freunden hat Surk-ki Schrade in Deutschland einen Verein gegründet. Der Name: Naturknall. Damit will sie Fakten schaffen, politischen Einfluss nehmen. Mit dem Verein arbeitet sie an einem Label für Naturwein, denn der Begriff ist ungeschützt. Dabei will sie im Gegensatz zu anderen Zertifizierern im Lebensmittelbereich nicht kommerziell arbeiten.
Was auf den ersten Blick nach Fortschritt in der Regulierung klingt, gefällt aber nicht jedem in der Szene. Denn die Details sind umstritten. „Bei bis zu 30 Gramm Gesamtschwefel nenne ich das noch Naturwein“, sagt Schrade. Die Schwefelfrage spaltet die deutsche Naturweinszene. Es gibt Hardliner, die komplett auf Schwefel verzichten. Ihre Weine haben sogar einen Begriff. „Man nennt sie Zero Zeros“, sagt Schrade, „zero filtration, zero Schwefel.“ Der Stoff dient als Konservierungsmittel und verhindert die Oxidation. Dadurch bleibt der Wein länger haltbar, behält seine Farbe und Aromen. Der Reifungsprozess wird quasi eingefroren, wenn der Winzer zufrieden ist. Schrade vertritt eine andere Meinung: Laut ihr sind ungeschwefelte Weine genauso haltbar wie geschwefelte.
Ihre Liebe für Naturwein hat ihren Ursprung im Süden Frankreichs. Während einer Reise mit Freunden trank Schrade in Marseille ihr erstes Glas Vin Naturel – und ist seitdem Enthusiastin. „2009 habe ich dann meine ersten Flaschen nach Deutschland geholt“, sagt sie. Nach und nach baute sie einen Online-Weinhandel auf – mit hohem Anspruch an die Kundschaft. Interessenten mussten ihr zunächst eine Art Bewerbung schreiben. „Erst wenn man mir beweisen konnte, dass man wusste, wovon man redet, hat man den Wein auch bekommen“, sagt Schrade. Eine strenge Auslese, aus der eine treue Kundschaft entstanden sei.
Mittlerweile ist sie weniger dogmatisch. Sie hat sogar eine Naturweinmesse ins Leben gerufen: Weinsalon Natürel. Das war 2015. Dieses Jahr, bereits das neunte Jahr, versammelten sich 72 Weingüter aus ganz Europa in – natürlich – Köln-Ehrenfeld. Es ist zugleich das neunte Mal, dass Schrade einlädt: Immer dann, wenn 40 Kilometer nördlich in Düsseldorf die wichtigste deutsche Weinmesse ProWein internationale Gäste nach NRW lockt. Es ist eine Art David gegen Goliath.
Die Gastronomin
Pauline Ipfelkofer ist seit einigen Jahren nicht mehr aus der Community wegzudenken. Den Start machten sie mit einem kleinen Naturweinladen in der Kölner Roonstraße, nicht weit von der Wohnung der Ipfelkofers. An Samstagen scharten sich bis zu 20 Fans des neuen Kult-Getränks um den Eingang und veranstalteten Weinproben. „Das ging dann irgendwann mit dem Ordnungsamt nicht mehr.“ Zeit für eine Schanklizenz. Zeit für die Weinstube. Die eröffnete das Paar im Jahr 2023.
Nach der Weinstube hat sie mit ihrem Mann Johannes 2024 auch eine Weinbar („Bar Bar Bar“) und ein Bistro („Bistrooo“) in Köln eröffnet. Sie befinden sich beide in der Nähe des Friesenplatzes, Kölns Knotenpunkt, touristennah, mit der Hoffnung auf Laufkundschaft. Und deutlich sichtbarer als die versteckte Weinstube in Ehrenfeld. Auf der Karte: die bekanntesten Weine der deutschen Naturwein-Winzer. Auch der Riesling ihres Freundes Max Dexheimer geht hier über den Tresen.
Jüngst gaben die Ipfelkofers bekannt, dass sie ihre Weinstube in Ehrenfeld komplett schließen werden. „Wir wollen unsere Energie voll auf das Bistro und die Bar konzentrieren“, sagt Ipfelkofer. Denn mit Wein kennen die beiden sich noch besser aus als mit Kochen. Der Naturwein geht also neue Wege, raus aus dem alternativen Viertel, rein in die Kölner Innenstadt, in den Mainstream.
Dayan Djajadisastra und Finn Walter