Historisch geworden schien der Britpop schon in den wilhelmbuschhaften Versen der Liedermacherin Judith Holofernes vor einigen Jahren: „Pulp und Blur, ach! Damon Albarn / Guck mal, wie se hier noch jung warn!“ Inzwischen gehen die Helden des Musikstils, der Anfang der Neunziger, vielleicht auch etwas früher geprägt wurde, auf die sechzig zu. Jarvis Cocker, Sänger der Gruppe Pulp und zugleich so etwas wie der weise Mann des Britpops, ist sogar schon knapp drüber.

Pulp gibt es freilich auch schon seit 1978 und somit deutlich länger als Gruppen wie Blur, Oasis, Suede, Supergrass oder die Stereophonics. Aber ihre großen Momente verdichteten sich um 1995. Zum Beispiel, als Pulp in jenem Jahr beim Glastonbury-Festival ihr Lied „Common People“ spielten, das neben Blurs „Parklife“ oder „Wonderwall“ von Oasis heute als Signatur-Song der britischen Neunziger gelten kann. Oder im August jenes Jahres, als die von Journalisten zu Konkurrenten stilisierten Blur und Oasis in der „Battle of Britpop“ am selben Tag eine Single veröffentlichten, „Country House“ und „Roll With It“. Oder im Frühjahr 1996, als der Spielfilm „Trainspotting“ und sein legendärer Soundtrack herauskamen.

Ist das die perfekte Welle?

Dass 2025 Jubiläen anstehen und gewürdigt werden wollen, vor allem von Menschen, die jetzt ebenfalls älter geworden sind und nostalgisch zurückschauen, haben die, die damals schon „Don’t Look Back in Anger“ sangen, früh begriffen: Seit mehr als einem Jahr läuft die Ankündigungsmaschine für die Oasis-Reunion-Tour, die von Juli an neben den notorisch zerstrittenen Gallagher-Brüdern auch deren Band nach langer Pause wieder zusammenbringt.

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Und plötzlich scheint es, als ob eine ganze Britpop-Welle im Sommer mitrolle: Richard Ashcroft von The Verve kommt zu einigen Oasis-Konzerten dazu; jüngst veröffentlichten die Stereophonics ihr neues Album „Make ’em Laugh, Make ’em Cry, Make ’em Wait“ (druckvoll, doch nicht ganz überraschend). Während Blur beim Nostalgietheater offenbar nicht mitmachen wollen, kündigt als Trittbrettfahrer nun auch noch Robbie Williams für diesen Herbst ein Album namens „Britpop“ an. Das kann man bei einem, der 1995 mit seiner Casting-Gruppe Take That noch eher Babypop machte, etwas frech finden – oder auch gewitzt: Mal sehen, wie es wird.

Das erstaunlichste Comeback aber ist das neue Album der Gruppe Pulp, das Anfang Juni erscheint – ihr erstes seit 24 Jahren. Anhand von Pulp lässt sich auch am ehesten behaupten, dass Britpop wirklich ein Musikstil sei, nicht nur ein Dachbegriff für unterschiedlichste Bands (die im Falle von Oasis trotz ausgestellter Englishness eher amerikanisch klingen.)

Ein vertontes Audiobuch?

Pulp sind ein Pendant zum deutschen Diskurspop, und viele ihrer Songs sind eher erzählt als gesungen. Beim neuen, bitteren Trennungslied „Partial Eclipse“ klingt Jarvis Cocker teils wie ein Nachrichtensprecher; das verdrehte Liebeslied „Background Noise“ lässt an ein vertontes Audiobuch denken. Genau das ist aber die Stärke des Albums, dessen literarische Texte eine Positionsbestimmung sind: in der Ästhetik wie im Leben eines Sängers, der auch zur Stilikone geworden ist (neben Georg Kreisler und Nana Mouskouri ist er vielleicht der charakteristischste Chanson-Brillenträger).

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Das Album heißt schlicht „More“, was in einer Popwelt, die immer mehr will und in der manche sogar zwei Alben im Jahr veröffentlichen, angesichts der langen Pause nach sehr britischem Understatement klingt. Dabei bietet es wirklich viel, nämlich mit „Spike Island“ eine Single, die musikalisch so mitreißend ist, dass man das Gefühl hat, die Neunziger wären nie vorbeigewesen.

Dies liegt vielleicht auch mit daran, dass einige Bestandteile des neuen Albums tatsächlich aus den Neunzigern kommen: Songschnipsel und alte Demos hat Jarvis Cocker mit seiner Band neu zusammengesetzt, wobei sie fast alle wie aus einem Guss wirken. Auch etwa „Got to Have Love“ hat einen älteren Kern, ist aber fast so ein Feger wie „Spike Island“. Die neuen Grooves, die nahtlos an alte Hits wie „Disco 2000“ anknüpfen, werden diesen Sommer bestimmt viele glücklich machen an dabei vielleicht nicht nur an alte Zeiten erinnern.

Textlich enthält das Album mehrere kleine Romane. „More“ ist durchzogen von tiefer Melancholie und hat Spätwerkscharakter, was sich nicht zuletzt bei der Ballade „Hymn of the North“ zeigt. Pulp, die in der aktuellen Besetzung neben Cocker aus Candida Doyle, Mark Webber, Nick Banks und auch dem Gitarristen Richard Hawley bestehen, stehen mit diesem Album in einer Reihe elegischer Spätwerke des Pop – und sie stehen neben diesen sehr gut da.

Natürlich fehlt in Cocker Melancholie nicht seine typische Ironie, die sich etwa auf die Berufsjugendlichkeit der (Brit-)Popper bezieht. In dem Lied „Grown Ups“ singt er eine Zeile, die angeblich von seinem Sohn stammt: „It’s nearly sunset and we haven’t had lunch yet.“ Und das großartige „My Sex“ klingt wie eine späte Antwort auf Jane Birkin und Gainsbourg, in der selbst das Stöhnen altersweise geworden ist, das „ah, ah, ah“ changiert hier bisweilen zwischen „Aha“ und „Aua“.

Das Album „More“ von Pulp erscheint am 6. Juni.