Was lesen Sie?
Ich hatte eine Lungenentzündung, also habe ich in letzter Zeit viel gelesen. Wenn man krank ist, wünscht man sich ein dickes Buch, in dem man sich verliert. Glücklicherweise hatte ich vor ein paar Jahren „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ angefangen. Ich habe die einzelnen Bände schnell gelesen, aber große Pausen dazwischen gelassen. Jetzt las ich also „Guermantes“, den dritten Band. Er schließt mit einer außergewöhnlichen Szene, in der Swanns Versuch, der Herzogin seinen nahenden Tod zu eröffnen, unterbrochen wird von ihrer Erkenntnis, dass sie immer noch schwarze Schuhe zu einem Ensemble trägt, das nach roten verlangt. Ich bin dann schnell weiter zum vierten Band, „Sodom und Gomorrah“, der mit der fabelhaften Szene beginnt, in der Marcel eine unerwartete Begegnung zwischen Baron de Charlus und einem Arbeiter beobachtet. An Proust liebe ich die radikalen Wechsel von Ton und Handlung. Gosh, eben noch steckt man in einer langen und ziemlich einschläfernden Passage über aristokratische Abstammungstafeln, dann arbeitet Proust schockierenden Klatsch ein oder eine Beobachtung, die so beißend und seltsam ist, dass man blitzartig wieder wach ist. Ich lese gerade auch „Electric Spark“, eine Biographie von Muriel Spark, einer meiner Lieblingsautorinnen, so streng, so witzig. Und gestern habe ich endlich mit „Gliff“ angefangen, dem neuen Roman von Ali Smith. Die Dystopie aus einer nahen Zukunft, die furchteinflößend vertraut wirkt – verzweifelte Geflüchtete in Internierungslagern, permanente Überwachung, Obsession mit Grenzen –, aber zugleich seltsam durchflutet von Hoffnung.
Welches Buch haben Sie im Bücherschrank, das Sie bestimmt nie lesen werden?
Ich kann mit kein Buch vorstellen, das ich nie lesen würde. Es gibt allerdings viele Bücher, von denen ich genug gelesen habe. Mich reizt es nicht, „Die 120 Tage von Sodom“ zu beenden, auch wenn ich finde, dass de Sade heute noch ein relevanter Autor für die Komplexität der Freiheit ist.
Die britische Autorin Olivia Laing veröffentlichte gerade „Der Garten und die Zeit. Auf der Suche nach einem Paradies auf Erden“ (Fischer, 384 Seiten, 26 Euro)
In der Sonntagszeitung vom 25. Mai finden sich zusätzlich die Antworten von Olivia Laing auf die Fragen, was sie sieht, was sie hört – und wann sie zuletzt ihre Meinung geändert hat.