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Der Blick geht in ein Tal, das von Bergen umsäumt ist, in der Mitte schlängelt sich ein Fluss.Die Brookskette in Alaska, zu deren Füßen das Wasser noch laufen kann, wie es will. © imago stock&people

Der britische Nature Writer Robert Macfarlane über die Rechte von Flüssen,
die Bedrohung durch den Klimawandel und sein neues Buch, das eine kühne Frage stellt.
Ein Interview von Sylvia Staude

Robert Macfarlane, der wohl berühmteste, stilistisch feinste Nature Writer Großbritanniens, beginnt nach der Begrüßung mit einer aktuellen Sorge und Frage. 

Hier in England haben wir bereits eine Dürre, es ist viel zu trocken, es könnte schlimmer werden als 2022. Wie ist es bei Ihnen in Deutschland? 

Ebenfalls viel zu trocken. 

Für die Schmetterlinge ist es gut, das ist das Beste, was man darüber sagen kann. Aber was wollten Sie mich fragen? 

Sie haben Ihren Buchtitel als Frage formuliert, was ungewöhnlich ist. Warum haben Sie sich für „Sind Flüsse Lebewesen?“ entschieden? 

Weil man als Leser nicht mit dem Schluss des Buches beginnt, man beginnt vorne. Und es war mir wichtig, dass die Leser in Zweifel und Unsicherheit beginnen, was die Antwort auf diese Frage betrifft, denn so habe ich selbst auch angefangen. Und mir ist klar geworden, dass alle meine Bücher aus einer Frage entstanden. Warum klettern Menschen auf Berge?, war die erste. Und die Frage im Herzen von „Underland“ war: Sind wir gute Vorfahren? So waren meine Bücher immer um eine einzelne Frage organisiert, aber zum Titel wurde sie noch nie. Diese Frage nun fühlt sich sehr dringend und sehr alt an, aber ich wollte nicht, dass das Buch eine Feststellung wird: Ein Fluss ist lebendig. Sondern ich wollte, dass es eine Inspiration wird mittels einer Frage, die schwer zu beantworten ist, die aber von großer Bedeutung ist. 

Gab es, da Ihr Buch in den USA und Großbritannien bereits erschienen ist, Reaktionen darauf? Fühlten sich Menschen gleich zu einer Antwort animiert? 

Ich hatte gerade heute morgen eine Reaktion von jemandem, der das Buch seiner Tochter zeigte. Und die sagte: das ist eine dumme Frage, die Antwort ist: Ja. Das war übrigens auch die Reaktion meines Sohnes Will. Es gibt Menschen, die sagen: Natürlich ist ein Fluss lebendig, warum wird die Frage überhaupt gestellt? Und andere sagen: Natürlich ist ein Fluss nicht lebendig, was für eine dumme Frage. Er ist nur Beschaffenheit plus Schwerkraft. Aber dazwischen gibt es Menschen, die fasziniert sind von der Provokation des Titels, die bereit sind, die Dimensionen dieser Frage zu erforschen. Das Buch ist eine Reise für den Leser. 

Sie versuchen zunächst, sich quasi von der anderen Seite zu nähern, nämlich zu sagen, dass es tote Flüsse gibt, dass wir einen toten Fluss sofort erkennen. 

Ja, man kann es heuristisch nennen. Es ist für skeptische Leser, die nicht willens sind, einem Fluss Leben zuzugestehen. Die zwar zugestehen, dass ein Fluss Leben enthalten kann, Leben mitführen kann, doch nicht, dass der Fluss selbst als lebendig beschrieben werden kann. Und ja, ich glaube, Menschen fühlen instinktiv, was es bedeutet, wenn ein Fluss stirbt oder tot ist. Und so wird das zu einem Mittel, sie zu bitten, es in ihrem Herzen zu bedenken, was das bedeutet: lebend, lebendig. 

Leider kennen vermutlich heute mehr Menschen aus eigener Anschauung einen toten Fluss als einen durch und durch lebendigen. Sie wollen das Denken auch mit Hilfe der Sprache verändern. Dass man im Englischen „the river, who“ sagt, wie bei einer Person, statt „the river, which“. 

Wie ist das im Deutschen? 

Das Deutsche bleibt beim jeweiligen Artikel als Demonstrativpronomen, der in diesem Fall das männliche „der“ ist. 

Aber ich stimme Ihnen zu, in England – nicht Großbritannien – haben wir keinen einzigen Fluss mehr, der in guter Gesundheit ist. Und das wird jetzt von der Dürre noch verschlimmert. Die Quellen, die nahe meinem Haus und durch das Buch fließen, sind schon jetzt sehr schwach. Und das System, das sie nährt, arbeitet bereits so wie normalerweise erst im Sommer. Es fühlt sich wie eine sehr schlechte Zeit für Flüsse an, umso mehr Grund, solche Unterhaltungen zu führen über das lange Leben der Flüsse, über ihre Leben, ihre Tode und ihre Rechte. Diesen Morgen meldete sich die BBC, sie wollten etwas über die Dürre machen. Das ist nicht der Hintergrund, den ich mir für mein Buch gewünscht habe. 

Die Dürre führt auch den Unterschied zwischen, zum Beispiel, Bergen und Flüssen, Wasser generell vor Augen. Wir können ohne Berge leben, aber nicht ohne Wasser, nicht einmal für Tage. 

Ja, jeder Mensch lebt in einer Wasserscheide, ist Teil der einen oder anderen Wasserscheide. Und wir sind alle Wasserkörper. Manchmal besteht mein Herz aus Bergen, aber das ist nicht wortwörtlich so. Aber mein Körper besteht im buchstäblichen Sinn aus Wasser. Wir sind alle Teil des Wasserkreislaufs. 

Sie schreiben, dass Kinder noch Animisten sind, also Flüssen durchaus automatisch eine Seele zugestehen. Aber ist es nicht heute ein Problem, dass Kinder überwiegend nur noch im Wasser von Schwimmbädern schwimmen können? 

Ja, das ist ein Kreis, der sich selbst verstärkt, auch ein Wasserkreislauf, wenn man so will. Und in Zeiten von Dürre normalisiert sich das für Kinder, sie können gar nicht erfassen, wie groß der Schaden ist. Ich bin seit 2006 Schirmherr der „Outdoor Swimming Society“ im UK, ich bin also sehr leidenschaftlich, was die Notwendigkeit betrifft, dass Menschen zu Freunden der Flüsse werden von einem frühen Alter an. Ich glaube, die Krise, mit der wir jetzt konfrontiert sind, ist eine der Imagination. Und so machen wir Menschen mit Flüssen bekannt, mit ihren Namen, ihrer Geschichte, Erfahrung und ihrem Gedächtnis. Das ist unbedingt Teil einer Lösung. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in meinem Land ist es noch möglich, in vielen Flüssen glücklich und sicher zu schwimmen. Auch wenn Sie vorsichtiger sein müssen als in der Vergangenheit. 

Auch in Deutschland gibt es Bemühungen, Flüsse wieder sauberer zu machen, so dass man auch gefahrlos in ihnen schwimmen kann. Es gibt Renaturierungen. 

Wir nennen es „re-wriggling“. Gerade heute morgen habe ich über das größte Damm-Beseitigungs-Projekt in der Geschichte der USA geschrieben, am Klamath. Ich weiß, bei Ihnen gab es die Wiederherstellung der Emscher, auch andere Projekte. Das ist aufregend, wir brauchen einen Beweis, dass es Hoffnung gibt, dass es die Möglichkeit von Hoffnung gibt. 

Auf der anderen Seite ist in den USA Trump an der Macht, der sich mit ungeheurer Verachtung über das Wassersparen äußert. 

Ja, der Angriff auf die EPA, die Environmental Protection Agency, ist der bisher größte in der Geschichte. Und ich habe über eine Reihe der Executive Orders Trumps geschrieben, die die Merkmale und die Gesundheit von Flüssen betreffen. Es ist ein großer Kampf. Darum ist die Wiederherstellung des Elwha in Washington State, ist dieser Sieg eine so wichtige Sache (1992 wurde ein „Restoration Act“ verabschiedet, d. Red.).

Sie haben für Ihr Buch drei Flüsse, drei Weltregionen ausgesucht. Wie kam es zu dieser Wahl? 

Wenn man die Quellen in der Nähe meines Hauses dazuzählt, sind es vier. Aber in allen drei Regionen war das Leben der Flüsse bedroht, durch Schürfrechte in Ecuador, Verschmutzung in Chennai, Dammbau in Nitassinan. Gleichzeitig sind es Orte, an denen Flüsse radikal imaginiert werden, zur Verteidigung ihres Lebens. In Ecuador gibt es einen Verfassungssatz, der die Rechte des Flusses und Waldes schützt, zu existieren, zu gedeihen und fortzubestehen. In Kanada sind dort zum ersten Mal die Rechte eines Flusses und er als lebendiges Wesen anerkannt worden. Und in Chennai ist es ein verzweifelt mutiges Unterfangen von jungen Leuten, sich um einen Körper zu kümmern, der grässlich geschwächt ist. Hoffnung und Vergeblichkeit, das sind die Hauptströme in meinem Buch. 

Haben Sie diese Orte auch ausgesucht, weil Sie dort sehr besondere Menschen getroffen haben? 

Das ist schwer vorauszusagen. Ich wusste nicht, dass ich in Chennai Yuvan treffen würde. Der stärkste Beweis für die Antwort auf die Frage des Buches kam durch die drei Menschen, Giuliana, Yuvan und Wayne – eigentlich Wayne und die Dichterin Rita –, denn alle drei waren dem Tod nahegekommen. Giulianas Vater war kürzlich gestorben, Yuvan erlebte in seiner Kindheit schreckliche Gewalt, Wayne hatte gerade seinen Freund verloren. Und ich konnte zusehen, wie alle drei zurückgebracht wurden in Richtung Leben, auch durch das Wasser. Diese Wahrheit, die ich gefunden habe, ist eine schlichte und bewegende. Wasser lebt und hat die Kraft, uns zurückzuführen zum Leben. 

Wasser ist in unserem Leben jedoch so essenziell, dass uns womöglich bei seiner Nutzung der Egoismus immer in die Quere kommt. 

Je mehr ich in meinem Land und darüber hinaus die Initiativen wahrnahm, die die Flüsse schützen wollen, desto mehr habe ich bei diesen Bewegungen die gleichen Überzeugungen erlebt. Ich habe gewissermaßen gelernt, meine Landschaft neu zu sehen. Ich bin jetzt sehr hoffnungsvoll. Vielleicht bin ich naiv, aber ich sehe so wenig Egoismus in der Wasserprotest-Bewegung, in meinem Land, in Europa. Ich sehe so viel entstehen aus der Krise, dem Bewusstsein, dass wir den Flüssen etwas zurückgeben müssen. Wir dürfen nicht denken, dass Egoismus in Bezug auf Flüsse unsere Standardeinstellung ist, es kann auch Altruismus geben.

Jetzt ist eine andere Form von Wasser das große Thema: Regen. 

Ja, das bringt uns zurück zur Ursprungsfrage, dem Klima. Das Leben der Flüsse ist darin in vielerlei Hinsicht enthalten. Ich weiß nicht, ob Sie kürzlich von dieser erstaunlichen Möglichkeit gehört haben, mit der die Fließgeschwindigkeit jedes Flusses auf der Welt gemessen werden kann. Sie hat, das ist keine Überraschung, abgenommen, wodurch die Flüsse auch weniger gesund sind. Und die steileren Flüsse sind viel heftiger und häufiger über die Ufer getreten. Die Regenfälle sind extremer und isolierter geworden. So sehen wir bereits, wie das Leben und das Verhalten von Flüssen durch den Klimawandel verändert werden. 

Überschwemmungen sind auch ein Grund, warum wir Flüsse dann doch gern wieder renaturieren wollen. Ist das nicht nur eine Form von Egoismus? 

Ich glaube, es kann beides sein, Anthropozentrismus und Altruismus. Die Bewegung für die Rechte der Natur ist so wichtig, weil sie eine andere Vision hat. Es ist nicht so, dass wir den Flüssen Rechte geben. Wir erkennen Rechte an, die es bereits gab. 

Der britische Nature Writer Robert Macfarlane im Grünen. Robert Macfarlane. © Archiv Robert Macfarlane

Aber wir entscheiden immer noch für den Fluss. 

Das ist die komplexe Frage: Wer spricht für den Fluss? Das ist eine der Fragen, mit denen das Buch ringt und auf die es gute und schlechte Antworten findet. Die allgemeine Lösung in der Rechtssprechung, in der Flussrechte eingeführt wurden, ist es, Flusswächter zu benennen, die für den Fluss sprechen und die versuchen, menschliches Interesse nicht ihre Hauptantriebskraft sein zu lassen. Das scheint mir ein wirklich wichtiges Experiment in Staatsführung und Gesetzgebung. Wir können kritisieren, dass es im Grunde ein Kompromiss ist, weil Menschen versuchen, die Absichten eines Flusses zu erahnen. Oder wir können es als sehr notwendigen und sehr spät kommenden Versuch sehen, die lebendige Welt angemessen und so gut wir nur können zu repräsentieren an den Orten, an denen die Macht die Entscheidungen trifft. Ich denke, es ist sehr gut, dass dies offen ist für viele Arten von Kompromissen. 

Genügt es zu sagen: wenn ein Fluss voller Leben, voller Fische und einigermaßen sauber ist, dann ist das in Ordnung? 

Das hängt vom Fluss ab. In Großbritannien gibt es nur noch eine Handvoll frei fließender Flüsse, und diese Flüsse werden gierig beäugt von Regierungen und Energieunternehmen. In Europa gibt es kaum noch ein Gewässersystem, das nicht eingedämmt ist. Es bleibt also noch viel zu tun. Man könnte sagen: Es ist die Absicht eines Flusses, sein eigenes Fließen zu bestimmen. Das wird nicht bei allen Flüssen funktionieren, aber es gibt keinen Grund, warum es nicht für irgendeinen Fluss funktionieren sollte. 

Zur Person

Robert Macfarlane, geboren 1976 in Halam, Nottinghamshire, hat in Oxford und Cambridge studiert und lehrte auch einige Zeit in Peking.

Mehrere preisgekrönte Bücher hat er seit dem Jahr 2003 geschrieben, die zum Nature Writing gezählt werden. „Berge im Kopf“ hat er erwandert. Ebenso die bei Matthes & Seitz erschienenen „Karte der Wildnis“ und „Alte Wege“ sowie „Hohlweg“ (Friedenauer Presse). Doch auch Sprache ist sein Thema, etwa in „Die verlorenen Wörter“ (Matthes & Seitz).

Zuletzt erschien 2019 „Im Unterland“. Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde“ (Penguin).

Als ich über Ihre letzte Flussreise las, per Boot durch die Stromschnellen des Mutehekau Shipu in Kanada, dachte ich: Mein Gott, er hat sein Leben dafür aufs Spiel gesetzt. Hat es sich so angefühlt? 

Ich bin als Bergsteiger aufgewachsen, bin immer noch Bergsteiger, so glaube ich, ich habe eine ziemlich ausgeklügelte Vorstellung von Risiko. Ich unterscheide manchmal zwischen Angst und Risiko. Man kann viel Angst spüren und doch nicht in Gefahr sein. Ebenso kann man in Gefahr sein und keine Angst haben. Letzteres ist gefährlich, aber ersteres ist in Ordnung. Ich glaube nicht, dass ich jemals in Gefahr war, obwohl ich manchmal Angst hatte auf diesem Fluss. Aber die Vorstellung, vom Mutehekau Shipu hinuntergezogen, herumgewirbelt, „rivered“ zu werden, war als körperliche Erfahrung extremer, als ich es je für eines meiner Bücher erlebt habe. Ja, der Fluss war eine härtere Reise als jede Bergreise, die ich jemals machte. 

Sind Sie in zwischen nicht nur Autor, sondern auch Aktivist? 

Das Wort Aktivist wird mehr und mehr verwendet, doch es sollte für die reserviert sein, die ihren Körper für eine Sache einsetzen. Ich nenne mich lieber Campaigner, Mitstreiter. Das Campaigning lässt sich außerdem nicht vom Schreiben trennen. 

Werden Sie sich weiter mit dem Thema Flüsse beschäftigen? 

Ja, sie werden weiter durch mich hindurchfließen. Seit ich „Underland“ beendet habe, war ich fast nicht mehr irgendwo im Untergrund, das war’s. Aber dieses Buch fließt mit solcher Kraft und in so viele Richtungen. In England wurde es gleich der Nummer-1-Bestseller, das hat etwas mit der Leidenschaft zu tun und dem Thema. Ich glaube, es wartet da noch viel Arbeit und ich kann ein wenig dazu beitragen. 

Sie tun es in einer außergewöhnlich reichen, plastischen, literarischen Sprache. Da steckt Mühe drin.

Sprache hat die Kraft, Leben zu erschaffen, wo keines ist. Und Leben zurückzubringen, wo es verschwunden ist. Mir war schnell bewusst, wenn ich als Autor meine Leser überzeugen möchte, Flüsse als lebendig zu erfahren, dann brauchte ich die Kraft des Rhythmus, der Bilder, der Form genauso wie der Argumente, der Aussagen, der Erzählung. So wird die Sprache in diesem Buch gegen Ende immer flüssiger, immer mehr „rivered“.