Der ukrainische Drohnen-Großangriff auf russische Militärflughäfen – mittlerweile in aller Munde unter dem Codenamen „Operation Spinnennetz“ – hat Kremlchef Wladimir Putins Armee am Wochenende ins Mark getroffen.
Während Präsident Wolodymyr Selenskyj die Performance seines Geheimdienstes als „brillant“ lobte, sprach der russische Militärblogger Roman Aljochin entsetzt und erzürnt von einem zweiten „Pearl Harbor“, das sein Land getroffen habe und forderte vom Kreml eine „harte“ Vergeltung.
Wie groß aber ist das Ausmaß der Zerstörung? Ist Russlands Kriegsführung nun spürbar eingeschränkt? Antworten auf die wichtigsten Fragen:
Wie schwerwiegend sind die Folgen des Angriffs?
Die „Operation Spinnennetz“ zeigt, dass die Russen, die die Ukrainer nach mehr als drei Jahren Vollinvasion in einen Diktatfrieden drängen wollen, zwar auf dem Schlachtfeld gerade die Oberhand haben mögen – aber dennoch verwundbar sind. Der Angriff lässt den Kreml zudem mit dem beunruhigenden Gefühl zurück, dass der feindliche Geheimdienst zu einem derart massiven Schlag auch ein weiteres Mal in der Lage sein könnte.
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Angaben des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU zufolge wurden mehr als 40 Kampf- und Aufklärungsflugzeuge zerstört. Das entspräche 34 Prozent der russischen Bomber, die in der Lage sind, Marschflugkörper abzufeuern, hieß es aus Kyjiw weiter.
Satellitenaufnahmen werden das genaue Ausmaß zeigen
Unabhängig überprüfen lassen sich diese Zahlen weiterhin nicht. Doch Videos, die aufgeregte russische Anwohner filmten und in sozialen Netzwerken teilten, zeigten am Wochenende vielerorts gigantische Rauchsäulen über Militärstandorten. Die Beweislast war so erdrückend, dass das Verteidigungsministerium in Moskau letztendlich zumindest einzelne Kampfjet-Brände einräumen musste.
„Die Liste der getroffenen Flugzeuge ist auf jeden Fall sehr eindrucksvoll“, meint Militär- und Sicherheitsexperte Gustav Gressel. „Viele davon stammen noch aus Sowjetzeiten und werden heute nicht mehr produziert, können also nicht nachbeschafft werden. Insofern schmerzt ihr Verlust die Russen extrem.“
Das genaue Ausmaß der Schäden werde sich voraussichtlich im Laufe der Woche bestimmen lassen, fügt Gressel hinzu. Dann erwartet der Fachmann erste Satellitenaufnahmen von den beschossenen Flugplätzen. Diese Bilder gäben verlässliche Hinweise, denn: „Die zerstörten Kampfjets werden abgewrackt und die, die weniger stark beschädigt wurden, zur Reparatur in Hangars transportiert.“ Nur: Ersatzteile dürfte es nicht für alle geben.
Was sagt der Großangriff über den ukrainischen Geheimdienst aus?
Spektakulär, historisch, aufsehenerregend: Die „Operation Spinnennetz“ wurde in internationalen Medien mit Superlativen geradezu überhäuft – und durchaus zu Recht.
34
Prozent der einsatzfähigen russischen Bomber wollen die Ukrainer getroffen haben.
Eineinhalb Jahre lang waren ukrainische Geheimdienstmitarbeiter Angaben der Behörde zufolge damit beschäftigt, die vielen Schläge vorzubereiten, die am Ende Wladimir Putins Riesenreich von Westen bis Osten, einem Spinnennetz ähnlich, überzogen. Explosionen wurden unter anderem in Iwanowo und Rjasan bei Moskau gemeldet. Aber auch in Irkutsk in Sibirien und in Amur im Fernen Osten, Tausende Kilometer von der Front entfernt.
An all diesen Orten öffneten sich am Sonntag wie von Geisterhand fast zeitgleich Holzkisten, die pro-ukrainische Agenten zuvor auf Lastwagen versteckt hatten. Diese wiederum wurden von nichtsahnenden Fahrern nah an die Militärgelände herangefahren. Aus den geöffneten Kisten stiegen Kampfdrohnen empor und führten ihre Attacken aus.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit seinem Geheimdienstchef Wassyl Maljuk: In Kyjiw freut man sich über eine „brillante Operation“.
© REUTERS/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE
Auch Gustav Gressel ist beeindruckt: „Die Operation zeigt, dass die ukrainischen Geheimdienste sehr kreativ und ausdauernd sind“, sagt er. „Denn es dauert sehr lange, einen solchen Schlag vorzubereiten: Die russischen Schwächen müssen ausgekundschaftet, Sprengmittel und Drohnen nach Russland hineingeschmuggelt und am Einsatzort positioniert werden. Das erfordert alles sehr viel Geschick.“
Wie sehr trifft der Angriff Russlands Kriegsführung?
Das hängt davon ab, wie viele Flugzeuge welcher Art am Ende wirklich irreparabel beschädigt wurden, sagt Politologe Gressel, der an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt die Offiziersausbildung absolviert hat.
„Strategische Bomber etwa werden zum Abschuss von Ch-101-Marschflugkörpern benötigt“, erklärt er. „Je weniger davon einsatzbereit sind, desto kleiner sind die maximalen Angriffswellen, die die Russen mit dieser Munition fliegen können.“
Gustav C. Gressel ist Experte für Osteuropa, Sicherheitspolitik, Militärstrategien. Er war bis 2024 Forscher am European Council on Foreign Relations.
Dann gebe es noch Frühwarnflugzeuge vom Typ Berijew A-50: „Die brauchen die Russen zum Beispiel, um die Flugrouten der ukrainischen F-16-Kampfjets aufzuklären. Außerdem kann man mithilfe dieser Flieger weit in den ukrainischen Luftraum schauen und sowohl russischen Jagdflugzeugen als auch S-400-Systemen Ziele zuweisen.“
Möglich ist, dass die russische Arroganz gegenüber den ukrainischen Verhandlern nun etwas kleiner geworden ist.
Gustav Gressel, Militärexperte
Sollten diese Geräte nun in größerer Zahl fehlen, dürfte sich Putins Armee deutlich schwerer damit tun, Gleitbomben auf die Ukraine abzuwerfen, sagt der Experte. „Dieser Effekt ist nicht zu unterschätzen, weil die Russen, denen langsam die gepanzerten Fahrzeuge ausgehen, momentan vor allem mit Gleitbomben und Infanterie angreifen.“
Gibt es Auswirkungen auf die Verhandlungen in Istanbul?
Am Montag trafen sich Russen und Ukrainer zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen zu Gesprächen in der türkischen Metropole Istanbul. Die Erwartungen waren allerdings von vornherein gedämpft – vor allem, weil Putin bislang keinerlei Friedensbereitschaft signalisiert hat und immer offensichtlicher auf Zeit spielt.
„Auf die Verhandlungen hat die ,Operation Spinnennetz‘ wahrscheinlich gar keinen Einfluss, denn die hätten ohnehin keine verwertbaren Ergebnisse gebracht“, sagt Gressel. Zugleich meint er: „Möglich ist, dass die russische Arroganz gegenüber den ukrainischen Verhandlern nun etwas kleiner geworden ist.“
Kommt jetzt Putins Rache?
Russland müsse auf Kyjiws Großangriff mindestens genauso entschieden reagieren wie die USA 1941 auf den japanischen Schlag gegen die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor, fordert der kremlnahe Blogger Aljochin.
Allein der Vergleich hinke enorm, gibt Gressel zu bedenken: „Die Japaner haben damals eine Friedensarmee attackiert, die keine Vorbereitung für einen Krieg getroffen hatte“, sagt der Wissenschaftler. „Das heutige Russland hingegen ist Angreifer. Es hat sich den Krieg selbst ausgesucht – und jetzt halt ordentlich eins auf die Nase bekommen.“
In ihrem Verteidigungskampf setzen ukrainsche Soldaten bereits seit Jahren auf Kampfdrohnen – und erzielen immer wieder aufsehenerregende Erfolge.
© REUTERS/ANATOLII STEPANOV
Eine Racheaktion des Kremls erwartet Gressel eher auf symbolischer Ebene: „Die Russen werden einige Raketen und Marschflugkörper abfeuern, um Stärke zu zeigen“, prognostiziert er. „Ansonsten werden sie wohl in erster Linie versuchen, mithilfe von Zensur das Ausmaß der ukrainischen Angriffe vor dem eigenen Volk kleinzureden und die eigenen Militärblogger dazu drängen, nicht weiter über diesen Angriff zu berichten.“
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Kurzfristige Auswirkungen auf Russlands bereits angelaufene Sommeroffensive sowie von langer Hand geplante Vorstöße in der Grenzregion Kursk/Sumy hingegen hält der Experte für unwahrscheinlich.
„Trotzdem bleibt natürlich die große Frage, wie weit die Russen mit diesen Offensiven kommen“, meint er. „Denn bekanntermaßen überschätzen sie gelegentlich ihre eigenen Kräfte.“