Seit dem 1. April ist Florian Amort neuer Intendant der Händelfestspiele Halle und Direktor des dortigen Händelhauses. Zur Eröffnung der Festspiele 2025 am 6. Juni zeigt die Oper Halle Georg Friedrich Händels „Agrippina“, Reinhard Keisers „Octavia“ feiert am darauffolgenden Tag im historischen Goethe-Theater Bad Lauchstädt Premiere. Zu dieser Konstellation unterhielten wir uns vorab.

Was hat Reinhard Keisers „Octavia“ bei den Händelfestspielen zu suchen?

Mehr, als man auf den ersten Blick denkt. Keisers „Die römische Unruhe, oder: Die edelmütige Octavia“ ist nicht nur eine luxuriös besetzte Oper mit elf Solisten und fünf Fagotten. Sie steht auch für ein Stück gemeinsamer Geschichte der beiden Sachsen. Sie begegneten sich 1703 in Hamburg. Der gerade einmal achtzehnjährige Händel sammelte als Geiger und Cembalist erste Bühnenerfahrungen an der Oper am Gänsemarkt, die der deutlich ältere Keiser leitete. Als Reaktion auf Händels zweite, heute verschollene Oper „Die durch Blut und Mord erlangte Liebe, oder: Nero“ 1705 sah sich Keiser von seinem Protegé offenbar herausgefordert – und komponierte als Antwort seine „Octavia“. Als Händel kurz darauf nach Italien reiste, hatte er laut einer Anekdote eine Abschrift der „Octavia“ im Gepäck. In seiner 1709 in Venedig uraufgeführten „Agrippina“ tauchen tatsächlich auffällig viele musikalische Anleihen aus genau diesem Werk auf – insgesamt sechs Arien, teils nahezu wörtlich übernommen. Der Musikhistoriker Friedrich Chrysander, Herausgeber der ersten Händel-Gesamtausgabe, nahm „Octavia“ deshalb als Supplementband auf. Was heute juristische Konsequenzen nach sich ziehen könnte, war damals gängige Praxis – zugleich ein faszinierendes Beispiel barocker Kompositionskultur.

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Händel hat sich also bedient – war er musikalisch ein Kleptomane?

Das klingt sehr scharf. Heute sprechen wir schnell von Plagiat – ein Urteil im Kontext des modernen Urheberrechts. Die damalige Kompositionspraxis war eine andere, man könnte stattdessen wertungsfrei von Intertextualität sprechen: Händel hat bei seinem Mentor und Konkurrenten Keiser nicht einfach abgeschrieben, sondern Passagen übernommen, bearbeitet und neu kontextualisiert. Es ging nicht immer nur um Originalität im heutigen Sinn, sondern um Wirkung, Aufführungspraxis und Kunstfertigkeit. Händel hat sich die Musik angeeignet – als kreative Strategie, aber auch als Zeichen von Selbstbehauptung, das Vorbild zu übertreffen. Und er war nicht der Einzige: Mozart führte in Wien unter seinem eigenen Namen die Sinfonie G-Dur KV 444 auf – eigentlich ein Werk von Michael Haydn, nur ergänzt durch eine langsame Einleitung. Rossini ließ zu Lebzeiten keine Gesamtausgabe seiner Werke erscheinen, aus Angst, man würde sehen, wie oft er sich selbst wiederverwertet hatte. In diesem Licht ist Händels Umgang mit Keisers Musik fast ein Kompliment. Und wer weiß – vielleicht stammen manche Ideen sogar ursprünglich von Händel selbst, aus der verschollenen „Nero“-Partitur.

Wird das Publikum in Halle diese Bezüge zwischen „Octavia“ und „Agrippina“ von allein bemerken, oder wäre das ein sinnvoller Fall für „betreutes Hören“?

Vermutlich Letzteres. Die beiden Werke sind umfangreich, die musikalischen Zitate oft kunstvoll eingewoben. Wer „Agrippina“ wirklich gut kennt, wird in „Octavia“ manches wiedererkennen – aber ohne Vorkenntnisse bleibt das verborgen. Es gibt nicht einmal eine Einspielung der „Octavia“. Umso dankbarer bin ich, dass der MDR und der Deutschlandfunk unsere Produktion mitschneiden – so können wir die Parallelen im Nachgang für ein breiteres Publikum hörbar machen.

Das Festspielmotto 2025 lautet „Frischer Wind: Der junge Händel in Italien“. War Händel der frische Wind für Italien – oder war Italien der frische Wind für Händel?

Beides. Händel kam als junger Mann nach Italien, aber keineswegs als unbeschriebenes Blatt. Was aus Rom überliefert ist, zeigt einen hochbegabten, selbstbewussten Komponisten, der mit seinem Orgelspiel, seinem Auftreten und seinen Werken in höchsten gesellschaftlichen Kreisen für Aufsehen sorgte. Er war kein Schüler mehr, sondern ein professioneller Musiker mit klarem künstlerischen Profil. Gleichzeitig war Rom eine musikalische Schatzkammer. Händel begegnete dort den Komponisten Arcangelo Corelli, Alessandro Scarlatti und Antonio Caldara, lernte von der katholischen Kirchenmusik, vom römischen Oratorium als Ersatz für die dort durch päpstliches Dekret verbotene Oper und kam in Kontakt mit den großen Förderern seiner Zeit: Kardinäle, Fürsten, Mäzene. Rom hat Händel geprägt – künstlerisch, strategisch, stilistisch. Der frische Wind wehte in beide Richtungen.