Ihre Vorfahren kamen aus Polen ins Ruhrgebiet, um dort zu arbeiten. Doch das wurde in der Familie der Autorin Birgitta Schulte geheim gehalten. Man schämte sich für die ärmliche Herkunft. Jetzt hat sie die Geschichte in einem Roman verarbeitet.

Es waren mehr als eine halbe Million Menschen, die in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg aus den preußischen Ostgebieten in das Industrierevier an Rhein und Ruhr migrierten: Ruhrpolen – so nannte man sie später. Heute gehört diese Zuwanderungsgeschichte zur viel beschworenen Identität des Ruhrgebiets als Schmelztiegel der Kulturen. Dabei wird oft vergessen, wie schwer und schmerzlich dieser Integrationsprozess für viele war. Die Autorin Birgitta M. Schulte erzählt in ihrem soeben erschienenen Roman „Ruhrgemüse, polnisch“ davon.   

Welt: Frau Schulte, der Anlass für Ihren Roman war die Entdeckung Ihrer polnischen Wurzeln, von denen Sie lange Zeit nichts wussten. Wie erfuhren Sie davon?

Birgitta M. Schulte: Vor einigen Jahren fiel mir bei einem Umzug ein Familienstammbuch in die Hände. Und da sah ich, dass die Namen meiner Urgroßeltern polnisch waren. Als Heiratsort war Samplawa eingetragen, das war eine sehr arme Gegend, die im 19. Jahrhundert zu Westpreußen gehörte. 

Welt: In Ihrer Familie war nie darüber gesprochen worden? 

Schulte: Nein. Mein Vater hat seine Herkunft verschwiegen. Auch meine Mutter sprach nicht gerne über diese Seite der Familie. Ich habe mich dann auf die Suche gemacht, was es damit auf sich hat. Ich hatte schon lange das Gefühl einer inneren Zerrissenheit, es kam mir so vor, als würde ich immerzu zwischen den Stühlen sitzen. Und als ich die polnischen Namen im Familienstammbuch sah, kam der Verdacht in mir auf, dass das möglicherweise mit dieser Einwanderungsgeschichte zu tun hat. Durch die Recherche wurde mir klar, dass es aber vor allem mit dem Wechsel von einem sozialen Milieu in ein anderes zu tun hat, den mein Vater in seinem Leben vollzogen hat.

Welt: Konnten Sie denn Ihre Eltern zu dieser Entdeckung befragen?

Schulte: Mein Vater, geboren 1910, ist bereits 1979 gestorben. Und zu seinen Lebzeiten war das für mich noch kein Thema. Ich war als kleines Kind zwar öfter bei meinen Großeltern, die in den typischen großen unverputzten Mietshäusern in Recklinghausen-Süd gewohnt haben. Aber da ahnte ich noch nichts von dieser Geschichte. Nachdem ich das Familienbuch gefunden hatte, versuchte ich mit meiner Mutter darüber zu sprechen, die damals schon über 90 war. Sie redete nicht gerne darüber. Erst durch den Kontakt mit einer Großcousine erfuhr ich mehr. In ihrer Familie ging man offener damit um. Und sie kannte meinen Vater gut.

Welt: Was hat sie Ihnen erzählt?

Schulte: Zum Beispiel, dass die Urgroßeltern Polnisch untereinander als eine Art Geheimsprache nutzten, mit den Kindern sprachen sie Deutsch. Oder dass mein Großonkel, der als Kind ein Spielkamerad meines Vaters war, oft gesagt hat: „Ich bin kein Pole, ich bin kein Russe, ich bin Deutscher.“ 

Welt: Sie verwenden diesen Ausruf auch in Ihrem Roman. Können Sie erklären, was es damit auf sich hat?

Schulte: Als im Zuge des Ruhraufstands des Jahres 1920 die Arbeiterschaft einen Monat das Ruhrgebiet in ihrer Hand hatte, wurde das Gerücht gestreut, dass man es mit „polnisch-russischen Massen“ zu tun habe, gegen die man mit aller Gewalt angehen müsse. Vermutlich bezieht sich die Aussage meines Großonkels darauf, er verwahrte sich wohl gegen diese Polen-Diskriminierung.

Welt: Die Polen kamen seit Anfang des 19. Jahrhunderts ins deutschsprachige Gebiet. Ihre Urgroßeltern wohl um das Jahr 1890. 

Schulte: In den späten 1880er- und 1890er-Jahren erlebten die Firmen im Ruhrgebiet einen ungeheuren Wachstumsschub. Die Polen wurden gerufen, um die schlimmsten Arbeiten unter Tage zu verrichten. Und gleichzeitig wertete man sie als dreckig, liederlich und faul ab. Das waren ja uralte Vorurteile, die schon Friedrich II. gesät hat, als er viele östliche Gebiete seinem Preußen einverleibte. Er sprach von verwilderten Menschen. 1772 erließ er die Kabinettsordre, „diesen sklavischen Leuten bessere Begriffe und Sitten beizubringen, und solche mit der Zeit mit Teutsche zu meliren“. Sie sollten also eingedeutscht werden. Diesem Germanisierungsdruck, von dem die Historiker sprechen, waren später die Ruhrpolen stark ausgesetzt.

Welt: Als Ihre Urgroßeltern nach Dortmund kamen, änderten sie ihren Namen. In Ihrem Roman beschreiben Sie, wie aus Koszyński der Name Kosshofer wird.

Schulte: Die Sache mit den Namen war für mich der Anfang der Recherche. Im Stammbuch wird bei meinem Urgroßvater ein „Genannt“-Name aufgeführt. Ich wusste zunächst nicht, was das bedeuten soll. In Westfalen gab es häufig solche Genannt-Namen, wenn ein Hof ohne männlichen Erben blieb. Der Mann, den die älteste Tochter heiratete, bekam dann den Namen des Hofs, das war dann dieser Genannt-Name. Aber das war bei meinen Urgroßeltern nicht der Fall. Vielmehr gehörte es im Ruhrgebiet zur preußischen Politik, vor allem nach der Reichsgründung 1870, die Polen einzudeutschen. Manche verweigerten sich dem. Doch die meisten machten das mit, um wirtschaftliche und soziale Nachteile zu verhindern, vor allem für ihre Kinder. Die Standesbeamten schlugen dann Namen vor, die Endungen -hofer oder -hof waren besonders häufig.

Welt: Sie schreiben, dass diese Namen bewusst so gewählt wurden, damit man die polnische Herkunft weiterhin erkennen konnte.

Schulte: Die Menschen sind damit gewissermaßen in eine doppelte Falle gelaufen. Die preußische Verwaltung erkannte an diesen Namen: Das sind die Polen, die wir umbenannt haben. So wurde die ethnische Abgrenzung in eine soziale Abwertung umgewandelt. Aber auch die Community derer, die sich weiterhin zu ihren Namen bekannten und einen polnischen Nationalstolz entwickelten, wusste das. So wurden die Polen mit den deutschen Namen von zwei Seiten ausgegrenzt.

Welt: Heute verweist man im Ruhrgebiet stolz auf die polnischen Anteile. Der „Tatort“-Kommissar Schimanski gehört genauso zur Ruhrpott-Folklore wie die Tatsache, dass das polnische Wort Mottek für Hammer verwendet wird.

Schulte: Mag sein. Aber Diskriminierung und Abwertung der Polen liegen nicht so besonders lange zurück. Ich selbst habe noch als Sechsjährige auf dem Schulhof in Bochum gerufen: „Grün und blau, Polakenfrau“ – ohne zu wissen, was das bedeutet. Wir haben es denjenigen hinterhergerufen, die wir nicht mochten. Abwertende Begriffe, die aus dieser Zeit stammen, finden Sie heute noch immer.

Er hasste den Kohl-Geruch der Armut

Welt: Im autobiografischen Nachwort zu Ihrem Roman beschreiben Sie einzelne Szenen Ihrer Kindheit. 

Schulte: Wir haben als Kinder oft gehört, wie unser Vater zu unserer Mutter sagte: Lass den Kohl nicht so lang auf dem Herd stehen! Bloß keinen Gestank nach Kappes! In meiner Interpretation ein polnischer Geruch – und auch ein Armutsgeruch. So einem Milieu entronnen zu sein, erzeugt oftmals Scham, Spannungen, die Wut erzeugen. Damit verbinde ich die Beobachtung von Widerspenstigkeit und Dissidenz. Er hat zu mir als junger Studentin gesagt: ‚Keine Herren über dir! Bleib selbstständig!‘ Solche Mahnungen habe ich damals nicht verstanden. Der Mann, der als Erster seiner Familie studiert hatte, der eine reiche Frau aus einer großbürgerlichen Familie geheiratet hatte und sich als Mitglied der höheren Klasse hervortat, verweigerte sich zugleich deren Dresscode. Er trug keine Krawatte und Knickerbocker statt Anzug.

Welt: Sie beschreiben in Ihrem Roman zwar die Geschichte Ihrer Familie, verwenden aber andere Namen. Ihre Urgroßeltern hießen in Wahrheit nicht Koszyński und Kosshofer, den richtigen Namen geben Sie nicht preis. Warum diese Distanzierung?

Schulte: Ich möchte Mitglieder meiner Familie schützen. Und ich finde, dass die Geschichte der Polen im Ruhrgebiet auch losgelöst von meiner persönlichen Geschichte erzählenswert ist – zumal in einem Land, das sich so schwer damit tut, sich dazu zu bekennen, dass es ein Einwanderungsland ist. Vermutlich gibt es in vielen anderen Familien des Ruhrgebiets ähnlich schmerzliche Erfahrungen – und das prägt eine Gesellschaft vielleicht stärker, als uns gemeinhin bewusst ist. 

Birgitta M. Schulte wurde 1951 in Bochum geboren. Sie studierte Germanistik und Politische Wissenschaft in Braunschweig und Bremen. Danach arbeitete sie als Journalistin – zunächst bei pädagogischen Zeitschriften, seit 1984 für den Hörfunk. Ihre Schwerpunkte waren Bildung, Frauen und Kultur. 2002 bis 2006 war sie stellvertretende Vorsitzende des Journalistinnenbundes. Sie hat mehrere Sachbücher und einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Ihr erster Roman „Ruhrgemüse, polnisch“ ist erschienen der Edition Stroux (188 Seiten, 25 Euro).

afa