Volle Einsicht in die Akten, eine umfassende Schulung der Behörden und »keinen Schlussstrich« unter die Aufarbeitung der rechtsterroristischen Anschläge und Morde: Mit diesen Forderungen der Angehörigen und Betroffenen des Terrors des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) wurde in Chemnitz am 25. Mai, einem Sonntag, das erste Dokumentationszentrum zur rechtsextremen Terrorzelle eröffnet; es heißt »Offener Prozess«. In einem ehemaligen Einrichtungsgeschäft soll nun ein Begegnungs-, Erinnerungs- und Lernort entstehen.

Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter: Zwischen 2000 und 2007 hatte der NSU Dutzende Menschen verletzt und zehn ermordet. Neun der Ermordeten haben einen Migrationshintergrund, Kiesewetter war Polizistin. Ein elftes Opfer, Atilla Özer, starb 2017 an den Spätfolgen des Anschlags auf ihn. An diese Gräueltaten soll die Ausstellung des neuen Dokumentationszen­trums erinnern, aber ebenso an das Versagen der Polizei und der Justiz und auch daran, dass die überlebenden Opfer und ihre Angehörigen rassistisch behandelt, nicht ernst genommen und in manchen Fällen gar selbst der Verbrechen bezichtigt wurden.

Aussagekräftig war, dass Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) der Eröffnung des NSU-Dokumentationszentrums fernblieb. Die Einweihung einer Bundesstraße am Tag hatte Priorität.

Während der zweistündigen Presseveranstaltung am Vormittag hielt Abdulla Özkan, Überlebender des Nagelbombenanschlags in Köln von 2004, eine bewegende Rede. »Diese Tat hat nicht nur mein Leben, sondern das vieler Menschen in unserer Gemeinschaft für immer verändert«, sagte er vor den Anwesenden. Mit dem Dokumentationszentrum werde ein wichtiges Kapitel der Erinnerung geöffnet. »Es ist ein Ort, der uns Gehör verschafft«, so der Überlebende. Er sei dankbar, dass er und andere Angehörige und Betroffene die Möglichkeit hatten, dieses Projekt mitzugestalten.

»Unsere Stimmen werden gehört – zumindest hier«, so Özkan. Man dürfe nicht die politischen Ursachen dafür vergessen, dass es zu solchen Taten komme und deren Aufklärung verschleppt werde. Es reiche nicht aus, nur zu dokumentieren. Es brauche vielmehr entschlossenes Handeln und Konsequenzen. Solche Taten dürften sich nie wieder wiederholen. Özkan erinnert auch an die unbequemen Fragen: »Warum hat man die Täter des NSU nicht früher ermittelt? Warum hat man jahrelang weggesehen, vertuscht und versagt?« Warum, fragte er schließlich, mussten Betroffene wie er sich rechtfertigen und wurden verdächtigt und kriminalisiert? Und: »Wo sind die Verantwortlichen?« Die Funktion des Dokumentationszentrums müsse, so sein Vorschlag, nicht nur in der Mahnung, sondern als Auftrag für die Zukunft gesehen werden.

Aussagekräftig war, dass Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) der Eröffnung fernblieb. Die Einweihung einer Bundesstraße an diesem Tag hatte Priorität.

»Geschreddert«, »unter Verschluss«, »Geschwärzt«

In den metallenen Aktenregalen im Ausstellungsraum sind Ordner aufgestellt: Die Buchstaben auf deren Rücken bilden die Worte »Geschreddert«, »unter Verschluss«, »Geschwärzt«, auf einigen Regalabschnitten lagern geschredderte Dokumente in durchsichtigen Kästen. Dieser Teil der Ausstellung spielt darauf an, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011, kurz nach Bekanntwerden der NSU-Mordserie, gezielt Akten zu V-Leuten vernichtete. Die offizielle Begründung: Datenschutz. Der verantwortliche Beamte mit dem Tarnnamen »Lothar Lingen« räumte ein, bewusst verhindert zu haben, dass die hohe Zahl von Quellen in Thüringen bekannt werden kann – aus Angst vor kritischen Nachfragen zur Rolle des Bundesverfassungsschutzes.

Mehrere Leinwände mit Informationen gliedern die Ausstellung thematisch: »Tatort«, »Aufarbeitung?«, »Kontinuität von rechtem Terror«. Auf der mit »Offener Prozess« betitelten Wand heißt es: »Eine Haupttäterin erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Vier Mitangeklagte wurden nur zu Strafen zwischen 2,5 und zehn Jahren verurteilt. Bei der Urteilsverkündung klatschten die anwesenden Nazis. Die Erwartungen an den Prozess wurden nicht erfüllt. Die Aufarbeitung bleibt ein offener Prozess: juristisch, parlamentarisch und gesellschaftlich.«

Die Ausstellung zeigt außerdem eine wachsende Sammlung persönlicher Gegenstände, die Angehörige der Opfer dem Dokumentationszentrum anvertraut haben. Darunter ist etwa die Armbanduhr Mehmet Kubaşıks, des achten Todesopfers des NSU. Als er am 4. April 2006 in seinem Dortmunder Kiosk erschossen wurde, blieb sie stehen. Die Ermittlungsbehörden verdächtigten fälschlicherweise zunächst den Ermordeten und seine Familie, in kriminelle Machenschaften verwickelt zu sein. Ein rechtsextremer Tathintergrund wurde hingegen nicht in Betracht gezogen.

Noch immer ist Chemnitz Hochburg des Rechtsextremismus

Erst als 2011 die NSU-Kernmitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Suizid begingen, Beate Zschäpe die Zwickauer Wohnung der Terrorzelle abbrannte und Bekennervideos versandte, wurde in diese Richtung ermittelt. Bis zu ihrer Selbstenttarnung 2011 hatten die drei unbemerkt in Chemnitz und Zwickau gelebt, von wo aus sie ihre Mordserie sowie zahlreiche Raubüberfälle und Bombenanschläge planten und ausführten.

Noch immer ist Chemnitz eine Hochburg des Rechtsextremismus. Bei der vergangenen Bundestagswahl erhielt die AfD hier rund ein Drittel der Stimmen. 36 von 107 Personen, die im Verdacht stehen, dem NSU geholfen zu haben, stammen aus Chemnitz, dem benachbarten Zwickau und dem nahegelegenen Erzgebirge. Chemnitz trägt in diesem Jahr aber auch den Titel »Kulturhauptstadt Europas« und zieht unter dem Motto »C the Unseen« mit einem umfangreichen Kulturprogramm Besuch­er:innen aus dem In- und Ausland an, von denen sich viele wohl das erste Mal nach Chemnitz begeben. Die Eröffnung des Dokumentationszentrums gehört zu diesen Bemühungen, von denen sich die Stadt ein besseres Image erhofft.

Entstanden ist das Dokumentationszentrum »Offener Prozess«, dessen Finanzierung bisher nur für das Kulturhauptstadt-Jahr gesichert ist, aus der Kooperation der Initiative Offene Gesellschaft, des Chemnitzer Bildungsvereins ASA-FF e. V. und des RAA Sachsen, eines Vereins, der Opfer rechtsextremistisch motivierter Gewalt unterstützt. Das Land Sachsen und der Bund teilen sich die Kosten von rund vier Millionen Euro, der Eintritt für Besucher:innen ist kostenlos. »Offener Prozess« soll als Vorbild für ein dauerhaftes Dokumentationszentrum dienen, das dem Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung zufolge in Nürnberg statt, wie von vielen Angehörigen bevorzugt, in Berlin eröffnen soll.