Für die einen sind Videospiele nur unterhaltsame Daddeleien, für die anderen Portale in fremde Welten. Science-Fiction-Geschichten werfen den Blick in die weite Zukunft, andere reisen in die Vergangenheit, um den Ursprung der Menschheit zu erforschen, bis zu den ältesten Märchen und Mythen.

Das prominenteste Gaming-Beispiel dafür dürfte Halbgott Kratos aus God of War sein, der es nicht nur mit Göttervater Zeus, sondern auch mit seinem nordischen Äquivalent Odin aufnimmt. Das begeistert viele, aber seien wir ehrlich: Diese Mythologien sind zu Tode erzählt! 

Es ist Zeit für etwas Neues – vielleicht für etwas Unheimliches, wie es South of Midnight bietet, das neue Spiel des kanadischen Entwicklers Compulsion Games. Hier trifft man auf Figuren und Erzählungen, die weniger bekannt sind als die griechischen Götter. In Stop-Motion-Optik watet die Spielerin durch magische Sümpfe im Süden der USA. Dort tummeln sich nicht nur Fische und Kröten, sondern auch Hexenspinnen, Zombie-Krokodile und andere Grusel-Charaktere, die auf der Folklore der Südstaaten basieren.

Gespenstische Archäologie

In South of Midnight spielt man die Jugendliche Hazel, deren Heimat von einem Hurrikan heimgesucht wird. Gerade als sie mit ihrer Familie Schutz suchen will, schwemmt die Katastrophe ihre Mutter samt Haus fort. Am nächsten Tag ist nichts mehr, wie es zuvor war: Ihre Gemeinde befindet sich an einem magischen Ort, der zwischen den Zeiten liegt: Alte Sklavenhütten liegen direkt neben edlen Villen. Denn der Sumpf vergisst nicht. Hier erfährt Hazel auch, dass sie eine Weberin ist – eine Magierin, die monströse Wunden der Vergangenheit mit ihrer Webkunst heilen kann. So zieht sie durch die Sümpfe, um ihre Geschöpfe kennenzulernen und ihren Dämonen Einhalt zu gebieten. 

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Dieser Ort ist nicht nur gefährlich, an manchen Stellen erlaubt er es auch, in die Vergangenheit zu sehen. Warum wird der Mann an den Docks vom Geist seines Bruders heimgesucht? Warum flüchtet die Pfarrerin vor dem Hauskrokodil ihres Vaters? Visionen liefern die Antworten, die teils nachvollziehbar, teils verstörend ausfallen. Aber sie sind niemals einfach und sie suchen keine Schuldigen, nur die Wahrheit. South of Midnight ist ein interaktives Märchen über Traumata, Verlust und Vergebung, das seine Thematik auf allen Ebenen durchleuchtet: So erzählt beispielsweise auch der Soundtrack durch Folksongs von den Handlungsfiguren und ihren Schicksalen.

Nostalgisches Gameplay

Auf der spielerischen Ebene liefert South of Midnight eher klassische Adventure-Kost: Wenn Hazel nicht gerade durch Hindernisparcours-Strukturen rennt und springt, kämpft sie in Arenen gegen verschiedene Monster. Was auf den ersten Blick repetitiv und fast schon einfallslos wirken mag, liefert auf den zweiten ein unterhaltsames und kondensiertes Gameplay, das meditativ mit der Handlung verschmilzt und trotzdem immer wieder Überraschungen bietet. Wer aufmerksam ist, findet Geheimpfade. Wer sich tiefer mit Hazels Fähigkeiten auseinandersetzt, findet effektive Kombinationen gegen die bunte Gegnerauswahl. 

Nicht zu viel, nicht zu wenig – South of Midnight fokussiert sich ganz klar auf seine Handlung und die atmosphärische Erfahrung, die Sümpfe und ihre Geheimnisse zu erkunden. Es ist ein vergleichsweise ruhiges und melancholisches Spiel, das die Entspannung immer wieder durch fesselnde Bosskämpfe und nervenaufreibende Verfolgungsjagden unterbricht. Während andere moderne Spiele sich gegenseitig in ihren Superlativen überbieten, was das Gameplay, die Spielweltgröße und die Spieldauer betrifft, beweist South of Midnight dagegen: Weniger tut es auch. 

Die Inspiration bei Tim Burton ist unverkennbar

Wenn Hazel einen Mentor in einem immerzu altklug quatschenden Fisch findet, wenn sie durch Übelkeit erregende Orte watet und alles Mögliche frech kommentiert, erinnert das Ganze – gerade wegen seiner Stop-Motion-Ästhetik – stark an die Filme des Regisseurs Tim Burton. Die Inspiration ist unverkennbar, die Wirkung effektiv: Man ist belustigt und zugleich verstört, neugierig und ängstlich, wenn an jeder Ecke etwas neues Groteskes wartet und im Südstaaten-Slang murmelt.

Das Setting ist unverbraucht, die Mythologie erfrischend, der Stil faszinierend und die Geschichte nachdenklich – Entwickler Compulsion Games nimmt den Spieler und die Spielerin mit in ein groteskes Märchen, das sich weit vom Mainstream entfernt, hin zu neuen Ideen, Figuren und Eindrücken, untermalt von einem klassischen Gameplay, das sich nicht aufdrängt, aber auch nicht langweilt.

Das Action-Adventure begibt sich tief in die Fantastik, um dort dennoch eine reale Geschichte zu erzählen, die Konflikte nicht nur mit Gewalt, sondern auch mit Verständnis lösen möchte. South of Midnight ist ein spielbarer Animationsfilm, der deutlich kleiner und kürzer als der Gaming-Standard ausfällt und nicht alle ansprechen wird. Aber wer sich darauf einlässt, bekommt frische Perspektiven auf bekannte Situationen, ohne dabei pädagogisch belehrt zu werden.

South of Midnight

Veröffentlichung: 8. April 2025
Plattform: Xbox Series X|S, Windows 10/11
Alter: USK ab 18 Jahren
Preis: ab 44,99 Euro