Stuttgart. Das Gefühl, sich weder mit der Welt noch mit anderen Menschen verbunden zu fühlen – viele Menschen mit Borderline kennen es nur zu gut. Betroffene sind hochsensibel, kämpfen häufiger mit innerer Anspannung und haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu steuern. Beim Borderline Trialog Stuttgart, einem offenen Gesprächsformat, können sich Betroffene, Angehörige und Fachkräfte austauschen. Wie fühlt sich ein Leben mit Borderline an? Wir waren vor Ort und haben mit zwei Betroffenen und Julia Schmelz, Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie gesprochen. 

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Gefühl, nirgends so richtig dazuzugehören

Der Borderline Trialog Stuttgart findet zwei Mal jährlich als Block statt. Der Andrang an diesem Abend ist groß, über 140 Menschen versammelten sich im Kulturwerk in Stuttgart-Ost. Bevor es losgeht, bekommt jeder ein Namensschild. Es gibt verschiedene Farben: Weiß steht für Betroffene, Grün für Angehörige und Rot für Fachkräfte. Teilnehmer werden in Gruppen aufgeteilt. Verschiedene Themen werden aufgegriffen und durch praktische Übungen vertieft.

„Viele Patienten berichten, dass sie sich nicht mit der Welt verbunden fühlen“, so Psychologin Julia Schmelz, die den Trialog in Stuttgart leitet und auch eine eigene Praxis hat. „Da bekomme ich Gänsehaut, wenn ich das erzähle.“ Dieses Gefühl kennt auch Klara (25): „Ich hatte ganz oft, selbst in engen Freundesgruppen, das Gefühl nicht dazuzugehören und nirgendwo so richtig reinzupassen.“

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Traumafolgestörung: „Nicht jeder, der Borderline hat, ist schwer traumatisiert“

Borderline ist eine Emotionsregulationsstörung und wird den Persönlichkeitsstörungen zugeordnet. „Das Gehirn kann Gefühle nicht so gut verarbeiten“, erklärt Schmelz. Das führe zu einer großen inneren Anspannung und zu Selbstverletzungsdruck. „Borderline-Patienten sind hochsensibel.“ Außerdem tauchen immer wieder Schamgefühle und das Empfinden, nicht gut genug zu sein, auf. Eine tief verwurzelte Angst, verlassen zu werden, erschwert es vielen Betroffenen, stabile zwischenmenschliche Beziehungen zu führen.

„Mittlerweile verstehen wir, dass Borderline eigentlich eine Traumafolgestörung ist. Nicht jeder, der Borderline hat, ist allerdings schwer traumatisiert“, so Schmelz. Als hochsensibles Wesen sei man aber immer bedürftiger. Schmelz nennt ein Beispiel: „Wenn ein hochbedürftiges Kind zwei Elternteile hat, die beide arbeiten, weil sie Geld verdienen müssen, kann es sein, dass dieses Kind sich in seinen Bedürfnissen nicht richtig wahrgenommen fühlt.“ Die Eltern haben zwar nichts falsch gemacht, es entstehe aber eine Lücke zwischen dem, was das Kind braucht und dem, was es bekommt. Selbst in einem liebevollen Umfeld können sich Menschen mit Borderline einsam oder missverstanden fühlen. 

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„Wenn aber ein hochsensibler Mensch auch noch in katastrophalen Umständen aufwächst, wird die Lücke noch größer.“ Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung seien oft Opfer oder Zeuge sexueller oder körperlicher Gewalt, wurden jahrelang missbraucht oder haben etwas anderes schwer Traumatisierendes erlebt. „Das sind oft Erlebnisse, die Todesangst hervorgerufen haben.“ Ist das der Fall, müsse man auch bei der Form der Therapie unterscheiden.

Viel Wut und Leere

Klara (25), die in der Pubertät vermutet hatte, sie leide an Depressionen, erhielt 2020 die Diagnose „Borderline“. Nina (23) wurde, als sie sechs Jahre alt war mit ADHS diagnostiziert. Der „große Crash“, wie sie es nennt, kam dann mit 19 Jahren. In einer Klinik, wo sie mehrere Monate war, erhielt sie ihre Diagnose.

Zu dieser Zeit hatte sich die heute 23-Jährige komplett zurückgezogen. „Ich hatte sehr viel Wut in mir, die ich aber nur an mir ausgelassen und nie nach außen gezeigt habe. Ich konnte das gar nicht zuordnen.“ Besonders schlimm empfand sie es, wenn man sie nicht ernstgenommen hat. Bei Sätzen wie „Stell dich nicht so an“ habe sie sich infrage gestellt, was auch in Selbsthass überging. Daneben gab es Phasen, in denen sie sich innerlich total leer gefühlt hat. „Ich habe mir selbst gar nicht zugestanden, dass es mir nicht gut geht, weil ich ja nichts gefühlt habe.“ Diese Leere sei sehr belastend gewesen.

Reaktionen können für einen Außenstehenden unverhältnismäßig wirken

In der Therapie lernen Betroffene, ihre eigenen Verhaltensmuster zu erkennen und zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Realität zu unterscheiden. „Wir müssen dem Gehirn beibringen, dass man diese Gefühle, die man als wahnsinnig gefährlich und kaum überlebbar gespeichert hat, wie andere Gefühle verarbeitet“, so Schmelz. 

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In der therapeutischen Arbeit wird dabei zwischen dem „Heimatfilm“ und der „Tagesschau“ unterschieden: Gefühle und Erinnerungen aus früheren, oft traumatisch empfundenen Situationen sind im sogenannten Heimatfilm gespeichert. Das, was tatsächlich in der Gegenwart passiert, wird als „Tagesschau“ bezeichnet. 

„Die Tagesschau löst Gefühle aus, die im Heimatfilm gespeichert sind.“ Dabei müssen sich Betroffene nicht aktiv erinnern – „die Gefühle erkennen sich und sind wie ein Magnet“, sagt sie. Ohne dass es bewusst wahrgenommen wird, laufe dann der alte Heimatfilm ab. „Die Anspannung steigt. Manchmal reicht ein winziger Auslöser, damit jemand regelrecht ausflippt“, sagt Schmelz. Für Außenstehende könne das oft vollkommen unverhältnismäßig wirken.

Borderline-Betroffene erleben Gefühle sehr intensiv

„Wir empfinden alle Gefühle sehr, sehr intensiv und sie werden auch schneller ausgelöst – die Guten sowie die Schlechten“, sagt Klara. „Ich beschreibe es immer wie eine Welle, die komplett auf mich einstürzt und mich fühlen lässt, als würde ich ertrinken.“ In einem Moment sei man noch richtig geladen und traurig, nach einer halben Stunde könne die Welt schon wieder ganz anders aussehen. „Das ist meist auch das Anstrengende und Irritierende für das Umfeld“, weiß Nina. „Es ist wichtig, zu akzeptieren, dass die Vergangenheit nicht veränderbar ist. So beschissen es war, es ist Teil meiner Biografie, ob ich will oder nicht – damit gilt es im gegenwärtigen Leben umzugehen“, sagt Schmelz.

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„Wenn man es googelt, wird man mit ganz schlimmen Klischees bombardiert“

Borderline sei nach wie vor mit viel gesellschaftlichem Stigma behaftet. „Beziehungsunfähig, manipulativ, bösartig und anderen Menschen bewusst, das Leben ruinieren: Wenn man es googelt, wird man mit ganz schlimmen Klischees bombardiert und fühlt sich noch schlechter“, weiß Klara.

Nina wünscht sich, dass das Individuum und nicht nur die Diagnose gesehen wird. „Wir haben zwar manchmal Schwierigkeiten mit unseren Emotionen, aber am Ende sind wir auch nur Menschen mit individuellen Persönlichkeiten.“

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„Man wird immer eine Person sein, die sensibel ist“

Gestern hatte Klara ihre letzte Therapiesitzung, wie sie erzählt. Auch wenn man immer sensibel bleiben wird, sie könne mittlerweile sehr gut damit leben.“ Schmelz erklärt: „Man hat eine genetische Veranlagung deutlich sensitiver für Reize von innen und von außen zu sein. Das können wir in der Therapie nicht verändern“, erklärt Schmelz. Was bleibt, sei „ein Grundrauschen“ und Momente der Einsamkeit.

Klara hat gelernt, ihre Gefühle besser zu regulieren. Auch wenn es noch Triggerpunkte gebe, nehme sie die anders wahr und könne damit umgehen, sodass es gar nicht mehr zu solchen Krisen komme. „Früher dachte ich, dass es für immer so schlimm bleibt, und habe keine Hoffnung für die Zukunft gesehen.“

Nina geht es mittlerweile ähnlich: „Ich erkenne meine Muster sofort. Wenn ich merke, dass ich in Hochanspannung gerate, frage ich mich, warum das so ist.“ Aus Erfahrungen kann sie sich mittlerweile darauf verlassen, dass es immer wieder okay wird. „Es fühlt sich in dem Moment zwar nicht so an, aber man kann es jetzt logisch nachvollziehen und annehmen.“