Am Ende brauchte es tatsächlich erst einen überdrehten Präsidenten im Weißen Haus, der den ukrainischen Präsidenten beleidigt, mit Streichung der amerikanischen Waffenhilfe droht und dem Mann im Kreml fast schon alles verspricht, was der sich in seinen feuchtesten Träumen gewünscht hat, damit die Europäer aufwachten. Das passierte ungefähr in der Zeitspanne zwischen der ersten und der zweiten Auflage von Carlo Masalas Warn-Buch „Wenn Russland gewinnt“. Denn Gründe, die Europäer vor dem Schlimmsten zu warnen, gab es genug. Gerade weil die meisten Politiker so taten, als könnte das nie passieren.

Und mehrere Parteien plakatierten ja in ihren Wahlkämpfen 2024 und 2025 einfach so „Frieden“ an alle Laternenmasten und forderten gar in seltsamer Übereinstimmung ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine. Was letztlich natürlich darauf hinausläuft, dass sie die Kapitulation des Landes fordern, das seit dem 24. Februar 2022 um seinen Bestand, seine Freiheit und die Demokratie kämpft. Und den Wählern wird auf allen verfügbaren „Social Media“-Kanälen eingeredet, dass damit der Krieg endet und sie keine Angst mehr haben müssen.

Als wenn im Kreml ein Präsident regieren würde, der Verträge einhält, Frieden wahren möchte und nicht immer wieder laut verkündet hat, dass er alle Länder „zurückhaben“ will, die mal zur Sowjetunion gehört haben. „Einsammeln russischer Erde“ nennt sich das. Klingt ganz romantisch, ist aber purer Imperialismus, der längst wieder die russische Politik bestimmt. Und mit der Ukraine wird jedenfalls dieser Präsident nicht aufhören, wenn es ihm gelingen sollte, das Land zur Aufgabe zu zwingen.

Viel zu oft hat er auch angedeutet, dass ihm eine Zerstörung der europäischen Friedensordnung und der EU ebenso wichtig sind. Dieser Präsident hat eine Strategie, Russland wieder zur Großmacht machen zu wollen. Und längst testet er die Europäer aus und führt auch längst einen hybriden Krieg, bei dem wichtige Infrastrukturen angegriffen werden, extremistische Parteien unterstützt und die Kanäle mit russischen Verdrehungen und Fakenews geflutet. Denn eins hat der ehemalige KGB-Mann gelernt: Wie man Menschen Angst macht und diese Angst dazu nutzt, die Menschen in Schockstarre zu versetzen.

Den Kreml ernst nehmen

Aber was hat Carlo Masala hier eigentlich geschrieben? Der Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr ist längst ein gefragter Gast in TV-Runden zum Ukraine-Krieg. Und anders als viele eingebildete Experten oder unbeschäftigte Ex-Generäle, die nur zu gern die russische Sicht auf den Ukraine-Konflikt kolportieren und gar nicht mehr merken, wie sie selbst zum Teil der systematischen Angstmache geworden sind, ist Masala ein Warner.

Weil er ernst nimmt, was der Kreml sagt und tut. Und weil er wie wenige Andere gesehen hat, was passiert, wenn man den Drohgebärden aus Moskau immer wieder nachgibt. Denn das ermutigt die Strategen im Kreml, einfach immer weiterzumachen und weiter zu eskalieren.

In seinem Buch hat Masala ein mögliches Szenario entworfen, was passieren würde, wenn nicht nur die Amerikaner, sondern auch die Europäer die Ukraine im Jahr 2025 im Stich lassen und sie durch Entzug ihrer Unterstützung dazu zwingen, die Kapitulationsbedingungen Moskaus anzunehmen.

Wenn auch in der viel diskutierten Form, dass Putin nur jene Gebiete bekommt, die seine Truppen schon besetzt haben. Was natürlich Folgen für die ukrainische Politik selbst hätte. Denn das wäre das Ende eines Präsidenten Selenskyj, es würde wahrscheinlich sogar zu heftigen Spannungen im Land führen, das obendrein auch noch hochverschuldet wäre und halbzerstört.

Was aus Sicht de „Friedensstifter“ dann irgendwie wie das Ende des Krieges aussähe, würde den Moskauer Falken Gelegenheit geben, ihre ausgeblutete Armee wieder zu reorganisieren und den nächsten Schritt zur Destabilisierung der NATO einzuleiten – in Masalas Szenario die Besetzung der estnischen Stadt Narwa durch nachts ins Land gesickerte „grüne Männchen“, die Besetzung einer wichtigen Ostseeinsel und die längst bekannten Drohungen aus Moskau, bei einem Eingreifen der NATO würde man „bis zum Äußersten gehen“, also der üblichen Drohung, dann doch die Atombombe einzusetzen und den Dritten Weltkrieg zu entfesseln.

Und da das Amerikaner und NATO-Stab wissen, liegt der Schwarze Peter auf einmal bei ihnen. Ein klassischer psychologischer Trick. Dann wären also NATO und USA schuld am Dritten Weltkrieg. Also zögern sie, wollen sich die Amerikaner nicht die Finger verbrennen, die Europäer sind sich nicht einig und haben in diesem hypothetischen Jahr 2028 die drei zurückliegenden Jahre doch nicht genutzt, ihre eigene Schlagkraft aufzubauen, um einem solchen Streich der russischen Armee zu begegnen.

Keine Ausreden mehr

Was Masala hier schildert, ist im Grunde der Zustand, den EU und NATO tatsächlich bis zu Trumps zweiter Amtsübernahme pflegten. Mit all den Verzögerungen, für die auch Bundeskanzler Olaf Scholz bekannt war, der immer dann die Bremse anzog bei den Ukraine-Hilfen, wenn in Moskau wieder mal jemand sachte mit der Atombombe drohte.

Aber das wilde Agieren des wieder ins Amt gekommenen Präsidenten Donald Trump hat dann binnen weniger Tage gezeigt, dass es für die Europäer keine Ausreden mehr gibt. Das haben zwar Länder wie Polen und die baltischen Staaten auch vorher schon gewusst. Aber gerade die Deutschen haben sich immer wieder zurückgelehnt und so getan, als würde die Nachkriegsordnung immer noch funktionieren und würden die Amerikaner bereitstehen, falls Moskau doch mal einen Angriff auf NATO-Territorium wagt.

Doch selbst der ganz und gar nicht wild agierende US-Präsident in Masalas Szenario lässt die Europäer letztlich hängen. Und statt selbst zu reagieren, einigen sie sich – wie so oft – darauf, dass sie sich uneins sind. Was nun einmal heißt: Sie tun nichts, lassen Estland im Stich. Und in Moskau feiert man jubelnd den nächsten Sieg gegen den verhassten Gegner im Westen. Man hat wieder einmal erfolgreich ausgetestet, was man sich alles trauen kann, während die Staatsoberhäupter Europas ausweichen, den Kopf einzuziehen und nicht den Mut haben, ein Mitgliedsland der NATO gegen einen russischen Übergriff zu verteidigen.

Trumps erstes Versprechen geplatzt

Für die zweite Auflage seines Buches hat Masala sein Nachwort natürlich noch einmal aktualisieren können. Denn in Sachen USA hat sich ja bestätigt, was er in seinem Szenario beschrieben hat: „Als ich die letzten Zeilen für die erste Auflage schrieb, war Donald Trump gerade inauguriert worden. Aus seinem Wahlkampfversprechen, den Konflikt binnen 24 Stunden zu lösen, war, wie abzusehen, nichts geworden.“

Dafür scheint Trump mit Putin wieder auf Kuschelkurs zu gehen. Und den Europäern ist mit öffentlich gewordenen Dokumenten aus dem US-Verteidigungsministerium mehr als deutlich geworden, dass sich die Amerikaner aus Europa heraushalten wollen und die Ukraine ganz allein als europäisches Problem sehen.

Inzwischen hat aber auch der Bundestag reagiert und die Gelder für die Aufrüstung der Bundeswehr von der Schuldenbremse ausgenommen. Wohl wissend, dass sich Deutschland nicht hinter anderen Ländern verstecken kann, wenn die EU oder die NATO tatsächlich angegriffen werden.

Es geht auf völlig andere Weise um Frieden, als es die Schönwetter-Parolen auf den Wahlkampfplakaten gewünscht haben. Es geht um einen Frieden, der nur gesichert ist, wenn die NATO-Staaten auch ohne die USA so gerüstet sind, dass Russland keinen Angriff wagt. Das ist teuer und erschreckend. Aber wer in Moskau regiert, darauf haben deutsche Wähler nun einmal keinen Einfluss.

Und weil das die ganze europäische Gemeinschaft betrifft, hat die EU selbst ein 800-Milliarden-Euro schweres Aufrüstungspaket beschlossen.

Die Spiele der Autokraten

Und wer das nicht wirklich weltpolitisch einordnen kann, den lässt Masala in seinem Szenario auch daran teilhaben, wie russische Söldner in Afrika das Flüchtlingsproblem für Europa verschärfen und China, der stärkste Verbündete Putins, vor seiner Küste selbst für einen „Zwischenfall“ sorgt, der die Aufmerksamkeit der Amerikaner von Europa abzieht. Auch das ist nicht an den Haaren herbeigezogen: Die heutigen Autokraten spielen alle dasselbe Spiel. Und ihnen geht es nicht nur um die „multipolare Welt“ (eine Phrase aus der russischen Propaganda), sondern um eine Zerstörung der Friedensordnung.

Und allen voran geht Russland mit einer aggressiven Politik gegen alle seine Nachbarn. „Hoffnungen, dass Russland in Zukunft zu schwach sein wird, um andere Staaten anzugreifen oder dass die imperialen Ambitionen Russlands sich lediglich auf Teile der Ukraine beziehen, sind Wolkenkuckucksheime“, schreibt Masala. „Putin hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es ihm um die Wiederherstellung russischer Größe und die Zerstörung der europäischen Sicherheitsarchitektur geht.“

Auch seine Reaktionen auf Trumps Wünsche für einen befristeten Waffenstillstand erzählen davon, dass der Herrscher im Kreml gar keinen Anlass hat, auf Friedensverhandlungen irgendwelcher Art einzugehen. Denn seine Erfahrungen der vergangen drei Jahre waren ja immer, dass man die Europäer einschüchtern kann, dass man sogar mit Subversion und Manipulation die populistischen Parteien stärken kann, die Politik ganz im russischen Sinn betreiben.

Und dass die Europäer deshalb schwach sind und jederzeit einzuschüchtern. Das war bis jetzt immer so. Und auch die Deutschen haben sich auf der Friedensdividende nach 1990 ausgeruht und bilden sich immer noch zu gern ein, Putin sei ein Staatsmann wie alle anderen und man könnte mit ihm Verträge aushandeln, auf die man sich verlassen kann.

Das funktioniert aber nicht mehr, stellt Masala fest: „Denn nur, wenn in Russland der Eindruck vorherrscht, dass wir wirklich fähig und willens sind, jeden ‚Quadratmeter‘ (Olaf Scholz) unseres eigenen Territoriums zu verteidigen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Russland die Allianz irgendwann in der Zukunft testen wird.“

Wenn Russland eben nicht siegt …

Aber was beinah untergeht, weil Masala nur dieses eine mögliche Szenario beschreibt: Alles entscheidet sich im Grunde schon jetzt in der aktuellen Unterstützung der Europäer für die Ukraine. Denn wenn Russland in der Ukraine eben nicht siegen kann, wird jetzt schon die Grenze gesetzt, an der die russischen Herrschaftsträume enden. Und die Ukraine bekommt nicht nur Hilfe zum Wiederaufbau und kann sich regenerieren, sondern findet tatsächlich den Weg in die EU und in die NATO. Wo sie nach Wunsch ihrer Bürger eigentlich hingehört.

Und Masala betont auch, was viele Deutsche gar nicht sehen wollen, obwohl es auf allen Kanälen passiert: „Eine Gesellschaft, der nicht bewusst ist, dass ihre Form des Zusammenlebens durch hybride Kriegsführung bedroht ist, die nicht realisiert, dass Russland durch vielfältige Propagandamaßnahmen und Desinformationskampagnen das Vertrauen der Bevölkerung in die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Institutionen und Verfahren erschüttern will mit dem Ziel, die Demokratie als Staatsform zu diskreditieren, wird nicht die Bereitschaft entwickeln, resilient und widerstandsfähig zu werden.“

Und um diese Resilienz geht es jetzt. Die ist teuer und nicht für ein paar Cent zu haben. Aber nicht nur Donald Trump hat die Welt unsicherer gemacht. Und Masala macht eigentlich deutlich, dass es nun wohl an Zeit ist, dass die Europäer tatsächlich anfangen, sich als Gemeinschaft zu fühlen und sich wehrhaft zu machen gegen Autokraten wie Putin. Denn die verstehen nur eine Sprache, und das ist Stärke.

Die Europäer müssen widerstandsfähig werden, wenn sie ihre Freiheit und ihren Frieden bewahren wollen. Die Alternative sind Szenarien der Unsicherheit und der permanenten Bedrohung, wie sie Carlo Masala hier schildert.

Carlo Masala „Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario“ 2. Auflage, C. H.Beck, München 2025, 15 Euro.