Nur ein paar Tage noch, bis Tollwood beginnt, an allen Ecken auf der Schotterebene des Olympiaparks wird um 9 Uhr schon gewerkelt – der Ruhepol ist Martin Steinert. Während Münchens größtes Kulturfestival den Eindruck erweckt, es würde nie fertig gezimmert sein bis zur Eröffnung am 19. Juni, ist der Holzbildhauer recht zufrieden mit seinem Werk am Haupteingang. „Ich liege gut in der Zeit“, sagt der 65-Jährige.
Seit zwei Wochen sägt und spaxt er schon. Wie bei einem Nest hat er etliche Hundert Holzlatten dicht miteinander verwoben, das dennoch luftig wirkende Gebilde ragt ein paar Meter weit in den Himmel. Der Blick nach oben allein bringt Steinert ins Wanken. Er sei nicht schwindelfrei, sagt er, dass er jetzt ständig mit einer Leiter hinauf muss, das passe zum diesjährigen Festivalmotto: „Mut und machen“. Aber von einer gewissen Höhe an ist Schluss, am Nachmittag soll er eine sichere Hebebühne bekommen.
1600 Meter Dachlatten hat der Künstler mit 7000 Schrauben schon verbaut, 400 Meter liegen noch bereit. Er schneidet die Stangen nun in immer kleinere Teile, damit kann er die Ecken formen. Die begehbare Raumskulptur hat in etwa den Grundriss eines Yin- und Yang-Zeichens, so wollten es die Auftraggeber von Tollwood. „Hier muss es noch runder werden“, sagt der Künstler. Er tätschelt mit seiner Hand eine Stelle, nur knapp neben zwei mit rotem Filzstift beschrifteten Latten. „Sei im Jetzt. Daniela“ steht da. Und: „Waltraud Baum soll lange leben.“ Waren da schon Vandalen am Werk?
Im Gegenteil, so ist es gedacht. Jeder, der mag, kann an Steinerts „Wooden Cloud“ mitgestalten und seine „tiefsten Gedanken“ aufs Holz schreiben. „Erst so wird das Werk vollendet“, findet der Künstler. Vor 15 Jahren installierte der Saarbrücker zum ersten Mal eine solche Skulptur wie eine umlaufende Dornenkrone in die Johanniterkirche im österreichischen Feldkirch. Wochenlang begleiteten ihn Einheimische und Touristen beim Aufbau, fragten, redeten, schwiegen, da kam ihm die Idee, sie einzubinden. Sie könnten einfach ihre Wünsche auf die Latten schreiben. „So ist es zu einer Friedensmission geworden, ohne dass ich es vorhatte“, erinnert sich der Künstler.
So kam er um die Welt, seine Wolken tauchten auf, störten, wurden belebt, geliebt, verflüchtigten sich wieder. In Paris spannte er einen Bogen auf, in Dakar ließ er einen Reigen bootartiger Skelette emporragen, er war in Tirana, in St. Petersburg, mehrmals in Prag. Unter seiner Holz-Hängematte in Berlin-Neukölln diskutierten Yuppies mit türkischstämmigen Jugendlichen. 2019 lud ihn das Goethe-Institut nach Ramallah ein. Es war kompliziert. Er sollte mit palästinensischen Künstlern zusammenarbeiten, die aber weigerten sich, als sie hörten, dass man für „den Deutschen“ palettenweise feinstes Holz aus Schweden kommen ließ. Doch schließlich kamen wochenlang Einheimische in den Park, picknickten neben seiner Cloud, schrieben ihre Wünsche nieder: „Ich will eine Kawasaki“ oder „Ich will Polizist werden“. So erinnert er sich gerne an diese Zeit vieler Begegnungen. „Uns interessiert sehr, wie die Menschen ticken, was sie umtreibt.“ Die Kunstwolken sind immer Foren des Austauschs.
Manchmal wird es den Behörden zu viel. Wie 2024 in Havanna. Ein kubanischer Fan hatte der deutschen Botschaft von Steinerts Arbeit vorgeschwärmt. Dort meinte man, so ein offenes Projekt könnte schwierig werden in der politischen Lage. Schließlich erklärte man sein Werk zum offiziellen Beitrag Deutschlands zur 15. Kunstbiennale, damit war es unantastbar. Für die Behörden. Und da stand also dieser flammende Blütenkelch (aus dem Holz alter Paletten vom Hafen) auf der Plaza Vieja, die Menschen kamen, buchstabierten ihren Unmut über die kommunistische Partei drauf („Ein freies Kuba, das wieder lacht“). Es war gefährlich. Die Regierung schickte sogar Spitzel, einige Sprüche wurden geschwärzt, sagt Steinert. Am Ende war sein Werk auch hier komplett beschriftet.
Hat seine Kunstwerke schon auf an vielen Orten auf der Welt aufgebaut: Martin Steinert. (Foto: Johannes Simon)
In München ist noch Luft nach oben. Aber wenn es mal losgeht, weiß er aus Erfahrung, dann klettern die Menschen sogar an den Stangen nach oben, um noch eine freie Latte zu finden. Er empfiehlt das nicht, aber halten würde es, die Konstruktion ist von einem Statiker berechnet und hält „bis zu einem Wind von 150 Sachen“, sagt er.
Martin Steinert lächelt viel und ruhig und erzählt gerne. An den Tollwood-Wochenenden will der 65-Jährige da sein, mit den Gästen reden, lesen, was sie schreiben. Aber man muss nicht warten, bei seiner Arbeitsstelle am Haupteingang hat Tollwood schon begonnen. Einige Passanten hielten bereits an, haben ihn in ein Gespräch verwickelt. Und er hat wieder gemerkt: „Das Schöne ist, dass sie die Friedensbotschaft verstehen.“ Ob es etwas bringt? „Das Frustrierende ist: Es hilft nichts.“
Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben. Aufschreiben, was man mutig verändern will. Jetzt ist immer der beste Zeitpunkt dafür. Aktuell kann man sich noch die besten Latten sichern. Oder den Künstler für einen Moment für sich haben. Dann klopft er sich das Sägemehl von den Hosen. Vielleicht holt er einen Bildband über seine Arbeiten in Dakar oder Ramallah aus dem Auto, der Kofferraum ist voll. Er zeigt auch sein mit Heißklebepistole gefertigtes Streichholzmodell, verkaufen würde er es nicht. Weil viele gefragt haben, gibt es 3D-Druck-Modelle als Andenken zum Bestellen. Wobei – was wirklich bleibt, ist, was die Wolke mit einem macht, wie sie jeden verwandelt. Ende Juli wird sie verschwunden sein.