Felix Sandalov war in Moskau Chefredakteur eines Sachbuchverlags. Der Gründer wurde zum „ausländischen Agenten“ erklärt, drei Mitarbeiter soeben verhaftet. Die Fälle zeigen, wie grausam und absurd das Leben in Russland geworden ist
Zunehmende Kontrolle: In Russland unterliegt die öffentliche Meinungsäußerung einer immer strengeren Zensur
Foto: Christophe Karaba/dpa
Man kann sarkastisch auf die Dinge schauen und feststellen, dass Literatur in Russland noch Konsequenzen hat. Allerdings sind die zumeist negativ: Vergangene Woche wurden drei Mitarbeiter eines Verlags verhaftet, der Staat zensiert die öffentliche Meinung immer brutaler. Auch deshalb lebt Felix Sandalov, Leiter der Anti-Zensur-Initiative StraightForward, Schriftsteller und ehemaliger Chefredakteur des Verlags Individuum, seit über drei Jahren in Berlin.
der Freitag: Herr Sandalov, vergangene Woche wurden drei Ihrer Kollegen in Moskau verhaftet – wie geht es denen?
Felix Sandalov: Es sind drei Mitarbeiter und Freunde, sie stehen jetzt unter Hausarrest. Die Ermittlungen dauern an. Es ist eine absurde Untersuchung.
Was wird ihnen vorgeworfen?
Sie sollen Bücher mit queeren The
absurde Untersuchung.Was wird ihnen vorgeworfen?Sie sollen Bücher mit queeren Themen verkauft haben, obwohl das verboten ist. Das erschien den Ermittlern noch nicht schwerwiegend genug. Sie behaupten deshalb, dass die Erträge an die extremistische „LGBT-Organisation“ gehen würden. Die Vorwürfe sind völlig absurd, meine Kollegen hatten keinerlei Einfluss auf die Themen der Bücher. Sie arbeiteten im Vertrieb und organisierten die Lieferung an Buchhandlungen.Die rechtliche Grundlage ist, dass Ende vergangenen Jahres eine „internationale LGBT-Organisation“ für kriminell erklärt wurde. Was steckt dahinter?Das ist ein Beispiel dafür, wie absurd und grausam das Leben in Russland ist. Unnötig, zu erwähnen, dass es keine solche Organisation gibt, keinen Anführer, keine Kommandozentrale, die Menschen anweist, homosexuell zu werden. Es fehlen also wesentliche Merkmale einer Organisation. Dennoch wurde sie nach russischem Recht nicht nur als kriminell, sondern als extremistische Bewegung eingestuft. Die erste Fassung des Gesetzes gegen sogenannte „LGBT-Propaganda“ wurde 2013 verabschiedet. Damals konnte man davonkommen, indem man ein „18 plus“-Zeichen auf den Titel eines Buches klebte und es mit neutralem Umschlag verkaufte.Wie sieht das Programm der Verlage aus, für die Sie arbeiteten?Individuum war auf politische Sachbücher spezialisiert. Popcorn konzentrierte sich auf Jugendliteratur. Meistens gab es Übersetzungen, später auch russische Autoren. Popcorn veröffentlichte die russische Übersetzung von Heartstopper, eine Graphic Novel über eine junge homosexuelle Freundschaft. Das war sehr erfolgreich. Inzwischen wird Heartstopper auch in einigen Teilen der USA verboten. Bei Individuum veröffentlichten wir das Gefängnistagebuch von Oleg Nawalny, dem Bruder von Alexei, der ebenfalls aus politischen Gründen inhaftiert war. Wir machten Bücher über inländischen Terrorismus, über Frauenrechte und die Geschichte der Schwulenbewegung in der Sowjetunion. Der Wendepunkt war eine queere Geschichte in einem sowjetischen Pionierlager. Der deutsche Titel heißt Du und ich und der Sommer.Was war das Problem?Es wurde Ende 2021 veröffentlicht, kurz vor dem groß angelegten Angriff auf die Ukraine. Es verkaufte sich etwa eine halbe Million Mal, was für Russland viel ist. Hochrangige Beamte begannen, das Buch zu verunglimpfen. Die Mischung aus queeren Motiven und Sowjet-Pionierlager ist für sie wohl inakzeptabel. Das Bild der Sowjetunion ist heilig. Sie empfanden das vermutlich als persönlichen Angriff.Wie ging es weiter?Die beiden unabhängigen Verlage wurden von der größten Verlagsgruppe Exmo gekauft. Wir hielten das für besser, da die Repressionen bereits sehr heftig waren. Unmittelbar nach dem Deal wurden Alexey Dokuchaev, der Gründer der Verlage, und sein Partner zu ausländischen Agenten erklärt. Ebenso die Autoren des Buches über das Pionierlager.Was bedeutet es in Russland, zu ausländischen Agenten erklärt zu werden?Die Grundlage ist ein repressives Gesetz, das um 2012 eingeführt und immer weiter verschärft wurde. Eigentlich ist es eine Art Hinweis – der Kreml kann dich gerade nicht physisch auslöschen, würde es aber gern. Es ist eine Art ziviler Tod, du kannst für niemanden mehr arbeiten. Wer dich bezahlt, sponsert einen ausländischen Agenten und würde selbst zu einem. Man darf nicht unterrichten, nicht in staatlichen Organisationen arbeiten, die politischen Rechte, ob aktiv oder passiv, sind weg. Man kann sein Eigentum nicht mehr verkaufen. Die Leute fürchten das wie die Pest.Kann man sich dagegen wehren?In Russland gibt es derzeit deutlich mehr als 1.000 Menschen, die zu ausländischen Agenten erklärt wurden. Dazu kommen außerdem Organisationen. Ich kenne vielleicht einen Fall, in dem jemand seine Rechte zurückbekommen hat. Das kann auch konstruiert werden – jemand überweist dir Geld aus Großbritannien auf dein Bankkonto. So wirst du ein ausländischer Agent.Wie ist das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten in Russland?Es gibt keine Trennung. Ich wurde 1989 geboren, drei Jahre vor der Gründung der Russischen Föderation. In meinem Leben gab es eigentlich nie einen Unterschied zwischen Justiz, Parlament und Regierung. Die Untersuchungskommission der Staatsanwaltschaft schlägt ein Strafmaß vor, das sie politisch abgesprochen hat, der Richter bestätigt es. Die Quote der Personen, die bei Gerichtsverhandlungen ungeschoren davonkommen, liegt bei weniger als 0,5 Prozent.Worin sieht die Administration die Gefahr von queerer Literatur?In erster Linie ist das ein Mittel, die Gesellschaft zu kontrollieren, indem man vermeintliche Feinde schafft. In Wirklichkeit ist die russische Gesellschaft gar nicht so homophob, in jeder Stadt mit mehr als einer halben Million Einwohner gibt es mindestens einen Schwulenclub. Doch Homosexualität und Queerness werden als verweichlichter westlicher Lebensstil dargestellt, ein Angriff auf russische Kultur und Tradition. Für die Staatsideologie ist der Westen der Erzfeind. Sie operiert mit klassischen Erzählungen: Queerness sei eine Gefahr für Kinder in Russland. Sie könnten schwul werden, oder es gebe ein pädophiles Netzwerk. Der Kern der ursprünglichen Fassung des Gesetzes war der Paragraf, der LGBT-Propaganda in der Nähe von Kindern verbot.Wie wirkt der Krieg gegen die Ukraine in Russland?Nach den Angriffen auf die Ukraine dreht die Administration völlig durch. Das Leben unterliegt einer Kriegszensur. Es gibt einen Paragrafen gegen sogenannte Falschinformationen über den Krieg. Bei einer Verurteilung geht man für fünf oder acht Jahre ins Gefängnis.Wofür zum Beispiel?Etwa, wenn man in seinen sozialen Netzwerken etwas über Kriegsverbrechen postet, die einen aufwühlen. Aus offizieller russischer Sicht gibt es keine Kriegsverbrechen.Was bedeutet das, was bedeuten die Verhaftungen Ihrer Kollegen?Das sind klare Botschaften. Alles wird gesehen, gehört, bewertet. Meine Kollegen wurden unabhängig voneinander, aber fast gleichzeitig verhaftet, als einer von ihnen, der schon lange in Belgrad lebt, nach Moskau kam, um seine Mutter zu besuchen. Es geht darum, Angst zu verbreiten. Wochen zuvor brach die Polizei in Buchhandlungen in Moskau und St. Petersburg ein, auf der Suche nach kontroversen Büchern. Sie stellten eine irre Liste der Autoren zusammen, die nicht mehr vertrieben werden sollen.Macht die Willkür die Sache komplizierter?Absolut. Die Nachbarn, Kollegen, Freunde fragen sich, was das Vergehen der Verhafteten war. Jeder versucht, das zu interpretieren. Viele verinnerlichen dadurch die Angst. Manche macht es zu Mitläufern, manche werden Komplizen. Die Administration kann von oben herab die Gesellschaft nach ihren Interessen umstrukturieren.Wie verändert sich die russische Gesellschaft gerade?Wir können schon von einer Neustrukturierung sprechen. Das beginnt bei der Renationalisierung der Industriebetriebe und reicht bis hin zur wirtschaftlichen und technologischen Integration mit China. Das Militär wird nach dem Putschversuch von Jewgeni Prigoschin umgebaut. So etwas betrifft auch lokale und regionale Eliten. Es ist ein sehr personalisiertes System, in dessen Zentrum Wladimir Putin steht, seine zutiefst emotionalen Reaktionen, seine Launen.Wie würden Sie das Staatsgebilde beschreiben?Es ist eine absolute Monarchie. Neben Putin, dem Monarchen, gibt es etwa 100 Familien, denen vielleicht 90 Prozent des Reichtums und 90 Prozent der Macht gehören. Mit dem Krieg gegen die Ukraine hat die Zentralisierung noch einmal deutlich zugenommen. Und Putin hat erkannt, dass er einen enormen Vorteil hat.Welchen?Zeit. Der russische Staat, die Bürokratie funktionieren langsam. Er nutzt das zu seinem Vorteil. Seine politischen Widersacher haben eine beschränkte Zeit, sie müssen wiedergewählt werden, in drei Jahren gibt es keinen Trump mehr, die Präsidenten und Kanzler in Europa wechseln. Putin weiß, dass er bleiben wird. Er kann strategisch längerfristig arbeiten, die Langsamkeit ist eine Stärke geworden, er kann seine Launen ausleben.Was kann Europa, was kann Deutschland tun?Zunächst einmal muss Europa die Ukraine mit aller Macht unterstützen. Putin wird nicht bei der Ukraine aufhören, wenn er sie besiegt. Und es wäre gut, wenn hier verstanden würde, dass es in Russland viele Menschen gibt, die nicht fliehen konnten. Ich selbst habe auch Familie in Russland. Es gibt Oppositionelle. Das sind Geiseln des Staates. Man sollte Russland außerdem als Sozialexperiment studieren. Das Land ist inzwischen eine Art digitaler Gulag, die Überwachung geht weit, nach Schätzungen sitzen mehr Menschen in Gefängnissen als unter Nikita Chruschtschow. All das hat eine Wirkung. Man kann sehen, wie Menschen verängstigt, atomisiert, apathisch gemacht werden. Wie sie empfänglich für Desinformation werden. Wir versuchen das mit politischen Sachbüchern zu untersuchen, die unser Verein StraightForward unterstützt. Noch etwas ist wichtig …Was denn?Hier in Deutschland reden Experten jeden Tag von der baldigen Niederlage der Ukraine, andere erzählen, dass die russische Wirtschaft in zwei Wochen kollabieren wird. Solche Vereinfachungen fördern eine Art induzierte Schizophrenie. Ich werbe für eine anspruchsvollere Analyse.
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