Beim Interview-Tag zur Netflix-Serie „Kaulitz & Kaulitz“ guckt ein Hotelgast neugierig in den Pressebereich. Die Frau, der Garderobe nach gehobener Geldadel, ist einige Jahrzehnte zu alt, um als Teenie bei Tokio Hotel gekreischt zu haben. Trotzdem wünscht sie sich ein Foto mit Bill und Tom. Den Musikern ist etwas Erstaunliches gelungen: Mit dem Podcast über ihren Hollywood-Alltag und ihre Reality-Soap haben sie ein ganz neues Publikum gewonnen. Ist die Marke „Kaulitz & Kaulitz“ schon wertvoller als Tokio Hotel? Und was sagt die Band dazu?
In der Netflix-Serie „Kaulitz & Kaulitz“ sieht man euch oft Geld ausgeben: ein Whirlpool für 250.000 Dollar, ein Hubschrauber für 500.000 – das alles scheint zumindest erreichbar.
Bill: Das hast Du jetzt schon ziemlich verdichtet. Und den Hubschrauber kaufen wir ja nicht. (Lacht).
Bei Ausgaben über 10 Euro müssen meine Kinder eine Nacht drüber schlafen. Habt ihr vergleichbare Regeln?
Tom: Wenn wir uns was leisten, ist uns zumindest immer noch bewusst, wie unverhältnismäßig das ist.
Bill: Wir sind ärmlich aufgewachsen. Am Monatsende war der Kühlschrank auch mal leer. Wir wissen also noch, wie sich das anfühlt. Aber wir freuen uns auch. Geld muss Spaß machen. Nichts ist schlimmer, als Dagobert-mäßig drauf rumzusitzen. Wir geben unser Geld aus. Und wir geben das auch zu. Leute, die vom Bahnfahren erzählen und heimlich einen Ferrari haben, kann ich nicht leiden. Da sind wir über die Jahre amerikanischer geworden.
Das heißt – es gibt keine Regeln?
Tom: Bill sagt immer: Wirf das Geld zum Fenster raus, damit es zur Tür wieder reinkommt.
Bill: Absolut. Ich habe keine Kinder. Wenn ich morgen überfahren werde, möchte ich so wenig Geld wie möglich auf dem Konto haben.
In der Serie gewinnt man den Eindruck, dass du, Tom, deinem Bruder trotzdem auf die Finger guckst.
Tom: Wir sind beide nicht geizig, aber ich habe bei uns die Finanzen im Blick. Und an Bills Finger habe ich wirklich gerade wieder was entdeckt.
Bill: Ich musste ihm eben meinen neuen Ring beichten. Ich bin der erste Mann auf dem „Vogue“-Cover und wollte eine Erinnerung. Es gab einen großen Rabatt. In Wahrheit habe ich also gespart.
Es ist jetzt 18 Uhr und zwischen euch stehen zwei Cocktails und zwei Weißweingläser. Welchem Lebensprinzip folgt ihr: Kein Bier vor vier? Oder: It’s five o’clock somewhere?
Tom: Dem zweiten. Irgendwo auf der Welt ist immer die richtige Zeit zum Trinken.
Bill: Ich glaube nicht so an Verbote. Es gibt auch kein Essen, zu dem ich Nein sage. Das Schöne an unserem Leben ist, dass jeder Tag anders aussieht. Wir haben keinen Alltag. Manchmal kann ich wirklich schon am Morgen Cocktails trinken. An anderen Tagen haben wir von 6.30 Uhr bis abends volles Programm. Da geht das nicht.
Tom: Wenn ich heute zu viel trinke, zwinge ich mich morgen zum Sport. Der größte Unterschied zwischen Bill und mir ist, wie wir es mit dem Älterwerden angehen. Ich bemühe mich um eine Balance und esse auch mal was Gesundes. Aber alles, was ich mit Salat mache, macht Bill dann mit Botox.
Ich habe noch niemanden getroffen, der Botox nimmt. Fühlt sich das so an wie die Betäubung beim Zahnarzt?
Bill: Das fühlt sich ganz normal an. Der Einstich tut nicht weh und die Stirn ist hinterher auch nicht taub oder so. Man kann sie eben nur nicht mehr bewegen. Älter zu werden, ist toll. Mein Leben wird jedes Jahr schöner. Aber das heißt ja nicht, dass ich Falten kriegen muss. Ich habe gerade den Schönheitschirurgen von Kris Jenner ausfindig gemacht. Die sieht fantastisch aus, die Maus. Jetzt möchte ich auch hin. Vielleicht wäre das was für Staffel 3.
Die zweite Staffel führt einen neuen Charakter ein, Bill, deinen Hund Alfia. Wer lebt gesünder: Ihr oder eure Hunde?
Bill: Unsere Hunde, auf jeden Fall. Alfia ist ein Allergiehund. Sie kriegt allerfeinste Kost. Das könnten wir auch essen.
Sind eure Hunde mit anderen Promihunden befreundet?
Tom: Unsere Promihunde sind natürlich miteinander befreundet – also meine, Uschi und Jäger, mit Alfia.
Bill: Und Alfia war im gleichen Summercamp wie der Hund von Mark Wahlberg. Die beiden mögen sich gerne. Wir haben auch die gleiche Hundesitterin. Aber eigentlich mag Alfia Menschen lieber als Hunde.
Ein beneidenswerter Luxus, den du dir gönnst Bill, ist ein Haus von Lloyd Wright, dem Sohn der Architekturlegende Frank Lloyd Wright.
Bill: Die Pläne stammen noch vom Vater, aber ausgeführt hat es der Sohn.
Und du schickst jetzt Bauarbeiter mit der Spitzhacke auf die Terrasse, weil du dir einen Pool wünschst. Gibt es in den USA keinen Denkmalschutz?
Bill: Doch, in Amerika nennt man die Landmarks. Jared Leto, der Schauspieler, wohnt direkt die Straße runter in der Lookout Mountain Air Force Station. Das Haus sieht furchtbar aus, wie eine Fabrik, und er darf nichts dran renovieren. Zumindest nicht außen. Meins steht nicht unter Denkmalschutz. Und mit Pool wird es noch viel schöner.
Das Haus, das Frank Lloyd Wright für sich selbst gebaut hat, ist mehrfach abgebrannt. Man könnte fast sagen, dass du noch Glück gehabt hast mit dem Wasserschaden, von dem jetzt auch die Serie erzählt.
Bill: Wir hätten ja beinahe beides gehabt. Mitten im Wasserschaden musste ich wegen der Waldbrände für zwei Tage ausziehen.
Spätestens jetzt habt ihr für solche Fälle sicher einen Notfallkoffer. Was außer euren Ausweisen ist da drin?
Tom: In L.A. hat man die Naturkatastrophen ja alle komplett. Erdbeben sind eine ständige Bedrohung. Seit Ewigkeiten heißt es: The big one is coming – bald kommt ein ganz großes. Wenn es wirklich kommt, kann es für Häuser schwierig werden, die niedriger liegen, am Meer. Malibu wird‘s nicht mehr lange geben. Das hört man auch ständig. Und die Feuer kommen auch jedes Jahr. Ich habe immer die Notfalltasche gepackt. Da sind Festplatten mit Songs drin. Die sind das Erste, was ich rette. Und dann kommt alles rein, was man beim Ende der Welt so braucht: Tabletten, die schmutziges Wasser in Trinkwasser verwandeln. Gasmasken. Streichhölzer, die immer funktionieren, auch bei Wind und Wetter. Wärmedecken. Es sind richtige Überlebenstaschen.
Bill: Von den Wassertabletten haben wir unglaublich viele. Wir könnten theoretisch den ganzen Pool austrinken.
Hand aufs Herz: Waren die Bauarbeiten am Pool schuld am Wasserrohrbruch?
Bill: Der Rohrbruch war vorher. Und weil ich dann eh alles neu machen musste – die ganze Auffahrt, die Hauptwasserleitung –, habe ich dann auch den Pool gebaut. Und die Bäder und die Küche gleich mit. Es ist ein altes Haus, Baujahr 1945. Man muss es lieben und sich kümmern.
Wer soll in der neuen Küche kochen? In der Serie sieht man euch an einem Pfannkuchen scheitern.
Bill: Ich liebe Küchengeräte und gucke sie sehr gerne an. Ich benutze sie nur nicht.
Tom: Wenn jemand zu Besuch kommt, der kochen kann, kann der bei dir alles machen. Einem Chefkoch würde nichts fehlen.
Bill: Außer Zutaten. Im Kühlschrank sind nur Saft und Champagner. Und Würstchen mit Senf und Ketchup für den Hotdog.
Der älteste Zwillingsgag ist es, sich in der Schule als der andere auszugeben. Habt ihr manchmal Lust, das als Erwachsene noch mal zu machen? Für ein Musikvideo vielleicht? Oder für Heidi Klums Halloween?
Bill: Für Halloween haben wir das schon überlegt. Aber Tom macht immer ein Partnerkostüm mit Heidi. Wir müssten eine Lösung für sie finden.
Tom: Auch, weil es meiner Frau sonst sofort auffallen würde.
Bill: Ja, bitte, hoffentlich!
Wenn nicht, Bill, wie lange würdest du es laufen lassen?
Bill: Heidi würde es sofort merken. Schon am Gang. Ich glaube, Mama können wir länger verarschen als Heidi.
Tom: Aber auf dem roten Teppich, mit ein bisschen Abstand zu den Kameras – für Leute, die uns nicht jeden Tag sehen, würden wir das hinkriegen.
Bill: Das war sogar auf der Halloween-Party so, auf der unsere Freundin Candy sich als ich verkleidet hat. In der Zeitung stand hinterher: Bill war ohne Kostüm da. Dabei stand ich als Einhorn daneben. Die hatten sie für mich gehalten.
Habt ihr vor eurer eigenen Doku-Soap andere Serien geguckt – zur Vorbereitung oder als Fans? Die Osbournes, Sarah & Marc in Love, die Kardashians?
Tom: Die Osbournes kannte ich natürlich. Aber ansonsten, nee, nie …
Bill: Natürlich. Ich liebe das. Eigentlich habe ich alle Reality-Sachen gesehen, auch jetzt noch. Ich gucke Temptation Island VIP, die Kardashians, Bachelor, Bachelorette. Ich gucke alles.
Fällt euch ein Negativ-Beispiel ein? Etwas, das ihr auf keinen Fall im eigenen Format wiederholen wollt?
Bill: Das Krasseste bei den Kardashians war für mich, dass die sich wirklich auf die Fresse gehauen haben. Handgreiflich werden wir nie.
Tom: Das hat aufgehört, als wir neun waren.
Bill: Wahrscheinlich würde man es bei uns auch nicht akzeptieren. Das wirkt anders, wenn es Schwestern sind und keine Brüder. Die Kardashians haben sich vor drei oder vier Staffeln ja wirklich an die Wand gehauen und sich Backpfeifen verpasst und an den Haaren gezogen. Da musste die Produktion einschreiten. Bei uns gab es keinen Moment, wo wir gesagt haben: Wir machen die Kameras aus. Wir haben das Format nur unter der Bedingung gemacht, dass wir hinterher Szenen rausschneiden können. Und das war dann nie nötig.
Die Kardashians haben aus dem Reality-Format ein milliardenschweres Unternehmen gemacht. Wie ist es möglich, Tom, dass die gewiefte Entertainerin und Geschäftsfrau, mit der du verheiratet bist, bei euch freiwillig eine Randfigur bleibt?
Tom: Die Grundidee kam von unserem Podcast, „Kaulitz Hills“, der sehr gut lief. Die Leute haben sich gefragt: Wie sehen diese Kaulitz Hills denn nun aus? Gibt’s das wirklich oder erzählen die nur Quatsch? Heidi gibt aber Interviews und ist auch bei den Touren und zum Beispiel bei unserer Geburtstagsfeier zu sehen. Das Konzept war aber „Kaulitz & Kaulitz“ nicht „Kaulitz, Kaulitz & Kaulitz“. (Anmerkung: Heidi Klum hat bei der Heirat den Namen von Tom Kaulitz angenommen, sodass sie in diesem Titel die dritte Kaulitz wäre.)
In der ersten Staffel geht es kaum um die Musik. Und in der zweiten beschweren sich eure Bandmitglieder, weil ihr die Studio-Arbeit für die Serie vernachlässigt habt. Ist die Marke „Kaulitz & Kaulitz“ inzwischen wertvoller als die Marke „Tokio Hotel“?
Tom: Die Befürchtung von Georg und Gustav war nicht unberechtigt. Tokio Hotel ist unser Mutterschiff. Die Band ist der Motor für alles. Das sagen wir auch bis heute. Aber wir haben es zwischendurch schleifen lassen. Inzwischen haben wir eine Europa-Tour gespielt, wir arbeiten am neuen Album, es kommt das Jubiläum „20 Jahre Monsun“ und 2026 machen wir eine Arena-Tour. Was Georg und Gustav sagen, haben wir uns also zu Herzen genommen.
Bill: Und natürlich ist das alles nicht voneinander zu trennen: „Kaulitz & Kaulitz“ geht nicht ohne „Tokio Hotel“. Wir hatten nicht vor, eine eigene Marke daraus zu machen. Es gab keinen Masterplan. Das ist einfach passiert.
Bill, am Anfang von Tokio Hotel wurdest du als hetero und als Single vermarktet. Wurde dir das Coming-out damals ausdrücklich verboten? Und wenn ja – wann? Du musstest ja wahrscheinlich selbst erstmal rausfinden, dass du auf Jungs stehst.
Bill: Es gab nicht diesen einen Schlüsselmoment. Und es war auch unter uns in der Band immer klar, dass wir das geheim halten. Ich hatte damals ja sogar einen Freund. Bill datet – oh Gott! Alle wussten, dass das nicht rauskommen darf. Ich hatte immer einen wahnsinnigen Druck, weil ich dachte: Wenn das rauskommt, setze ich die Karriere von allen anderen aufs Spiel. Von der Plattenfirma aus wurden Mädchengeschichten für das Image dann extra forciert und durchgesteckt. Und ganz oft haben wir von denen gehört: Der sieht zu weiblich aus, die Fingernägel sind zu lang, die Haare sind zu lang, das ist für Fans nicht nachvollziehbar. Wir durften nie in der Maske filmen. Ich sollte immer schon fertig rauskommen. Man sollte eine Manga-Figur sehen und nicht einen Jungen, der sich schminkt.
Wie ging’s dir damit?
Bill: Das war ein Druck, den ich mir als kleiner Junge wie einen Rucksack aufgeladen habe. Ich war ja 15. Da ist man natürlich noch unsicher darin, über seine Sexualität zu sprechen, selbst mit Freunden oder auch mit dem Bruder. Wir haben das damals aber nicht groß durchdacht, weil auch der ganz normale Karrieredruck so groß war. Wir waren einfach Kinder oder Teenager, und jeder hat versucht, bestmöglich da durchzukommen und bloß nichts Falsches zu machen.
Tom: Bloß nichts Falsches machen – genau. Und es war eine andere Zeit. Es gab wenig Möglichkeiten, sich selbst so zu zeigen, wie man gern möchte. Keine Podcasts, kein Social Media. Wir waren auf das angewiesen, was die Presse schreibt.
Bill: Und das Queersein hat sich natürlich auch verändert. Schwul war ein Schimpfwort, noch viel mehr als heute.
Heute würden Eltern nicht wollen, dass das eigene Kind sich verstellt. Wie war das damals bei euch, Tom – hattet ihr in der Familie das Gefühl, dass ihr Bill mit dem Versteckspiel beschützt?
Tom: In unserer Familie haben wir so gelebt, wie wir waren. Bill und ich sind voller Liebe und frei aufgewachsen. Es gab keine Verbote. Bill ist mit einem kleinen pinken Rucksack und mit pinken Sandaletten zur Einschulung gegangen. Im Schwimmbad hatte er einen Badeanzug an. Meine Mama hat höchstens mal gefragt: Bist du dir da ganz sicher mit den Sandaletten? Die Öffentlichkeit und die Privatsphäre waren strikt voneinander getrennt. Und die Öffentlichkeit war eher der Feind.
Inzwischen hat sich das wohl gedreht.
Tom: Wir haben für uns gelernt, das umzudrehen. Jetzt sagen wir: Angriff nach vorne, so ehrlich sein wie möglich
Bill: Weil wir jetzt unser eigenes Sprachrohr haben. Tom und ich machen eigentlich gar keine Interviews mehr. Das hier ist eine echte Ausnahme. Wir machen einmal die Woche den Podcast und die Medien bedienen sich dann aus dem, was wir erzählen.
Mit Trump schwappt eine homophobe Welle über die USA. Mir wurde vor dem Interview allerdings gesagt, dass ihr nicht über Politik reden wollt.
Bill: Weil wir in L.A. in einer Bubble leben. Schon die Stadt ist eine Blase innerhalb von Amerika. Auf der Straße hängen Regenbogenflaggen und jeder lebt, wie er will. Und obendrauf kommt dann noch unser Lebensstil. Wenn wir mit einem Drink auf der Luftmatratze liegen, hat das nichts mit der Realität von anderen Menschen zu tun. Und das wissen wir auch.
Seid ihr denn so reich, dass ihr als Parteispender in Frage kämt – um die US-Politik ein bisschen zum Guten zu beeinflussen?
Tom: Ich wüsste gar nicht, wie viel Geld man da braucht.
Ab dem Gegenwert von zwei Hubschraubern ist man im Spiel, würde ich denken.
Bill: Ja, okay, na klar – dann schon. (Lacht).