Herr Dutsch, was sind die größten Unterschieden zwischen dem öffentlichen Personennahverkehr in Deutschland und in Tschechien?

„Zunächst einmal ist das Angebot in Tschechien deutlich besser. Das beginnt bei der Netzdichte und geht über die Betriebszeiten – gerade im Regionalverkehr – bis zur Fahrtenhäufigkeit. Des Weiteren ist der Preis des öffentlichen Nahverkehrs attraktiver. Und Politik und Medien haben größeres Interesse. Deshalb bin ich wohl auch gerade hier, denn in Deutschland wird man in der Regel nur interviewt, wenn irgendetwas schiefgegangen ist. All diese Aspekte führen in Tschechien zu einer stärkeren Inanspruchnahme. Der Anteil des öffentlichen Verkehrs am ‚Modal split‘, also an der Aufteilung der einzelnen Verkehrsarten, ist deutlich höher. Damit entsteht ein sich gegenseitig verstärkender Prozess. Denn mehr Fahrgäste führen wieder zu besserem Angebot und so weiter.“

Steffen Dutsch | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Steffen Dutsch|Foto: Ferdinand Hauser, Radio Prague International

Das klingt ja eigentlich super. Das heißt, Tschechien ist in Sachen ÖPNV-Ausbau einen Schritt weit voraus, und Deutschland ist das zurückgebliebene Autofahrerland?

„Das ist vielleicht ein bisschen zugespitzt formuliert. Es gibt sicher auch in Tschechien Gegenden, wo weniger passiert. Und in Deutschland gibt es natürlich auch Verbünde oder Städte, beispielsweise in Baden-Württemberg, wo sehr viel los ist. Aber ich darf vielleicht noch einmal zwei Zahlen nennen. Die Städte Pirna und Děčín an der Elbe lassen sich sehr gut vergleichen. Beide haben etwa 40.000 Einwohner. Während Pirna in der Spitzenstunde im Stadtverkehr etwa 18 Busse einsetzt, sind es in Děčín 31. Wenn ich das herunterrechne, heißt das im Endeffekt, dass in der deutschen Stadt 2200 Einwohner auf einen fahrenden Bus kommen, in Děčín aber nur 1500. Bei den Großstädten lassen sich Leipzig und Brno gut vergleichen, die eine ähnliche Struktur haben. In Leipzig kommen in der Spitzenstunde 2500 Einwohner auf ein fahrendes öffentliches Verkehrsmittel, in Brno sind es 750 Menschen. Das ist ein beträchtlicher Unterschied. Ohne es wissenschaftlich belegen zu können oder zu wollen, kann ich also sagen, dass in Tschechien im Stadtverkehr pro Einwohner doppelt so viele öffentliche Verkehrsmittel unterwegs sind.“

Dresden | Foto: Filip Jandourek,  Tschechischer Rundfunk

Dresden|Foto: Filip Jandourek, Tschechischer Rundfunk

Sie wohnen in Dresden, sind aber auch öfter in Prag. Was ist am hiesigen ÖPNV besonders gut? Vielleicht können Sie das mit Dresden vergleichen – auch wenn die Städte natürlich unterschiedlich groß sind und Prag etwa eine Metro hat…

„Normalerweise müsste man Prag mit Berlin vergleichen. Dann hätte man zwei Millionenstädte und würde sozusagen in der gleichen Liga spielen. In Prag ist das Angebot natürlich deutlich dichter als in Dresden. Es wird häufiger gefahren, und das Netz ist dichter. Ich möchte aber auch eine Lanze für Dresden brechen. Wir haben beispielsweise einen durchgängigen Nachtverkehr, der am Tagnetz orientiert ist. Man muss sich also nicht umorientieren, wenn man beispielsweise nach Mitternacht aus einer Veranstaltung kommt. Und wir haben ein sehr innovatives Nahverkehrsunternehmen.“

Öffentliche Verkehrsmittel in Berlin | Foto: Kuller63,  Pixabay,  Pixabay License

Es ist interessant, dass Sie den Vergleich mit Berlin anbringen. Die Bundeshauptstadt ist ja von der Fläche her viel größer als Prag.

„Ja, Berlin ist größer und hat etwa die dreifache Einwohnerzahl. Aber von der Struktur her bietet sich der Vergleich durchaus an. In beiden Städten gibt es Stadtschnellbahnen, Straßenbahnen und Busse. Interessant ist jedoch, dass der ‚Modal Split‘, der Anteil des öffentlichen Verkehrs am gesamten Verkehrsmarkt, in Berlin bei knapp 30 Prozent liegt – in Prag sind es über 40 Prozent. Allerdings muss man relativierend sagen, dass das Fahrrad in Prag fast keine Rolle spielt. In deutschen Städten hat es eine deutlich größere Bedeutung.“

Hierzulande wurde zuletzt relativ häufig darüber diskutiert, ob das Deutschlandticket, mit dem man für derzeit 58 Euro bundesweit den ÖPNV nutzen kann, auch ein Konzept für Tschechien wäre. Was ist Ihre Meinung dazu?

Deutsche Bahn | Foto: Didgeman,  Pixabay,  Pixabay License

„Erstmal finde ich gut, dass darüber diskutiert wird. Das war in Deutschland nämlich ein bisschen das Problem. Das Ticket wurde sehr schnell eingeführt, wichtige Fragen – wie beispielsweise die Angebotsgestaltung und insbesondere die Finanzierung – wurden aber erst hinterher beziehungsweise noch gar nicht geklärt. Die Antwort auf Ihre Frage ist nicht ganz einfach. Maßgebend für den Erfolg des Deutschlandtickets ist insbesondere der günstige Preis. Hinzu kommt die Flexibilität – ich kann überall fahren und muss mich nicht mehr über Tarife informieren. Viele haben in entsprechenden Befragungen zudem ein gewisses Umweltbewusstsein genannt. Gerade bei den Preisen ist die Ausgangssituation allerdings eine ganz andere. Wir haben in Tschechien deutlich geringere Fahrpreise und auch weniger harte Grenzen zwischen den Verkehrsverbünden. Oftmals gibt es hier Überlappungen, man kann also mit zwei Verbundtickets einen verbundübergreifenden Weg zurücklegen. In Deutschland ist man dahingehend häufig ganz streng: Das eine Ticket gilt dann bis zum letzten Ort des einen Verbundes, das andere Ticket startet im ersten Ort des neuen Verbundes. Dazwischen muss man etwa bei der Deutschen Bahn noch eine Fahrkarte lösen. Das macht die Sache kompliziert und teuer. In Tschechien ist man dahingehend weiter. Und der Anteil des öffentlichen Verkehrs am ‚Modal Split‘ ist landesweit grob geschätzt etwa doppelt so hoch. Das zu hebende Potential ist aus meiner Sicht deshalb deutlich geringer.“

Wie würden Sie den grenzüberschreitenden öffentlichen Personennahverkehr zwischen Tschechien und Sachsen sowie Bayern einschätzen? Gibt es da noch Potential und Ausbaubedarf? Und gibt es überhaupt Reisende, die dort über die Grenze verkehren wollen?

„Es gibt Reisende, und es werden zunehmend mehr – insbesondere Berufspendler. Sowohl in Bayern als auch in Sachsen kommt in den grenznahen Bereichen, also bis 50 Kilometer von der Grenze entfernt, ein großer Teil des Personals in den Gaststätten, im Gesundheitswesen und bei der Altenpflege aus Tschechien. Der Bedarf dieser Menschen entspricht aber in keiner Weise dem gegenwärtigen grenzüberschreitenden Verkehr. Denn der ist auf den Tourismus ausgelegt. Es wird also zwischen 7 und 19 Uhr alle zwei Stunden mit dem Bus oder einem Zug gefahren. Wenn man berufstätig ist, kann man sich aber weder auf diese Zeitspanne noch auf die Häufigkeit beschränken.“

Strasbourg Hauptbahnhof | Foto: Martin Balucha,  Tschechischer Rundfunk

Strasbourg Hauptbahnhof|Foto: Martin Balucha, Tschechischer Rundfunk

Gibt es diese Probleme auch anderswo? Oder läuft das an anderen Ländergrenzen in Europa besser? Zwischen Kehl und Straßburg verkehrt ja zum Beispiel eine Straßenbahn…

„Ich würde zunächst einmal sagen, dass Grenzen für den öffentlichen Verkehr leider immer Barrieren darstellen. Das betrifft nicht nur Staatsgrenzen, sondern in Deutschland etwa auch Ländergrenzen, Kreis- sowie Verbundgrenzen. Oftmals ist die Bereitschaft nicht vorhanden, über eine Grenze hinaus etwas zu finanzieren und das eigene Geld im anderen Verbund oder Landkreis auszugeben. Wir haben dazu an der TU eine Untersuchung durchgeführt und festgestellt, dass es innerdeutsch keine wirklichen Hindernisse etwa juristischer Art gibt. Es kommt allein auf das Engagement auf beiden Seiten der – tatsächlichen oder gedachten – Grenze an. Was die Staatsgrenzen angeht, gibt es natürlich sehr positive Beispiele. Ich denke da zunächst einmal an die Schweiz und Österreich. Und Luxemburg ist ein kleines Land, dessen Hauptstadt nur ungefähr 75.000 Einwohner hat, die täglich aber von 100.000 Pendlern angesteuert wird. Sie hatten ja auch Frankreich genannt: Die Straßenbahn zwischen Straßburg und Kehl, die es übrigens bereits vor dem Krieg gab, ist ein positives Beispiel. Aber in Frankreich sieht es allgemein nicht viel anders aus als zwischen Tschechien und Deutschland.“

Es ist also kein spezifisches Problem, dass der ÖPNV an den Grenzen zu den östlichen Nachbarn Deutschlands hinterherhängt?

„Es ist kein spezifisches Problem. Aber weil der Grenzübertritt schon seit einer längeren Zeit freizügig möglich ist und es dadurch mehr Arbeitsverhältnisse gibt, ist der Verkehr in Richtung Westen stabiler und besser.“

Sie sind an einem Interreg-Projekt beteiligt, dass sich mit dem Nahverkehr in der Böhmisch-Sächsischen Schweiz beschäftigt. Was muss getan werden, damit dort mehr Menschen den ÖPNV benutzen und Urlauber vielleicht gar nicht erst mit dem Auto anreisen?

„Das Projekt läuft seit November vergangenen Jahres. Wir stehen also gerade erst am Anfang und bemühen uns, nicht nur die Akteure des öffentlichen Verkehrs zu gewinnen, sondern vor allen Dingen die des Tourismus. Denn es ist ganz wichtig, dass die entsprechenden Verantwortlichen für den öffentlichen Verkehr werben und beispielsweise ein Gästeticket anbieten.“

Wie wollen Sie Ihre weiteren Lösungsvorschläge erarbeiten?

„Der erste Schritt ist wie bei jedem Projekt eine Analyse. Wir stellen uns dabei drei Fragen: Wie ist die Reisetätigkeit beim individuellen Verkehr, etwa hinsichtlich der Parkplatzsituation? Wie ist das Angebot beim öffentlichen Verkehr auf beiden Seiten der Grenze? Und wie sehen die grenzüberschreitenden Verbindungen aus?“

Sie sind öfter in Tschechien unterwegs und halten auch Gastvorträge an der Technischen Universität ČVUT in Prag – und das auf Tschechisch. Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Nachbarland und seiner Sprache zu beschäftigen?

„Das liegt natürlich an der örtlichen Nähe, aber auch am guten öffentlichen Verkehr, der studiert und besucht werden will. Tschechien hat eine schöne Landschaft, sehr nette Menschen, und inzwischen habe ich hier auch viele Freunde.“