Eigentlich will ich nicht schreiben, sondern laut schreien: Nichts wie hin! Alles stehen und liegen lassen! Sofort! Am besten aufs Rad schwingen und auf zu Bollenpiepe im tiefsten Pankow! Diese alte Vereinsgaststätte inmitten einer Kleingartenkolonie ist der Geheimtipp schlechthin.
Ach Quatsch, was schreib ich da. Das reicht nicht. Es ist der Ort, der mir den Glauben an eine sehr deutsche Institution zurückgibt: an das Vereinslokal – als sozialer Schmelztiegel, aber auch als Genussort. Nie hätte ich gedacht, dass man als Foodie hier im kulinarischen Himmel schweben kann.
Dabei liegt es so nah. Denn viele Vereinsgaststätten sind im Grünen. Diese hier in der Laupenpieperkolonie „Einigkeit“ in Rosenthal, die 14.000 Quadratmeter zählt. Viel Platz, um Bohnenkraut, Schmorgurken und Lauchzwiebeln anzubauen – berlinerisch Bollenpiepen –, woher sich der Name des Restaurants ableitet.
Braune Bockwurst-Tristesse
Eigentlich müsste man denken, die Kleingärtner in solchen Kolonien wissen, was gute Qualität und gesundes Essen sei, weil sie es selbst anbauen. Stattdessen herrscht in solchen Vereinslokalen überwiegend eine braune Bockwurst-Tristesse.
Ich habe mal recherchiert: Berlin ist laut Bundesverband der Kleingartenvereine Deutschlands mit rund 66.000 Gärten die Kleingartenhochburg schlechthin. Entsprechend groß dürfte auch die Zahl der Vereinslokale sein, die neben dem Klassiker Bockwurst noch strammen Max und einen Eintopf zwischen ihren von Jahrzehnten rauchverfärbten, getäfelten Wänden anbieten.
Zur Gaststätte Bollenpiepe: Hierhin fährt man am besten mit dem Rad.Anne Schönharting/Ostkreutz
Bollenpiepe, vor einem Jahr eröffnet, hat dieses Image überpinselt: Alles, was braun war, ist jetzt weiß gestrichen. Das Lokal wurde mit einem gemütlichen Bollerofen, etwas Stoff und Holz an den Wänden komplett umgekrempelt. Nach Gelsenkirchener Barock sehen maximal noch die gedrechselten Vereinstische und Stühle aus, aber auch sie bekamen einen neuen, türkisen Kunstlederbezug.
Noch mehr aufgeräumt wurde auf der Speisekarte: Bis auf ein paar Fleisch-Extras konfrontiert diese Vereinsgaststätte ihre Gäste mit veganen Tellern wie einem Bete-Salat mit Reis, Apfel und Meerrettich, einem Risotto mit frischen Erbsen und Serviettenknödel mit Waldpilzen. Das Erstaunliche? Die Gäste, die sonst vielleicht ihr Recht auf Currywurst einfordern würden, scheinen sehr glücklich damit. Zumindest sehen sie bei meinem Besuch so aus. Auch ist das Vereinslokal selbst an einem regnerischen Spätnachmittag unter der Woche gut besucht, obwohl es wirklich weit weg ist von der nächsten Wohngegend.
Stephanie Steinkopf
Unsere Kritikerin
Groß geworden ist Tina Hüttl in Bayern und mit den perfekten Dampfnudeln ihrer Oma. Essen ist schon immer ihr Lebensthema gewesen. Die Familie diskutierte beim Frühstück bereits das Mittagessen. Seit 2010 erkundet sie als Gastrokritikerin für ihre Kolumne in der Berliner Zeitung das kulinarische Berlin, seit 2018 ist sie Mitglied in der Jury „Berliner Meisterköche“. Neben ihrer Gastrokritik ist sie auch als Autorin, Radioreporterin, Podcasterin und Trainerin an Journalistenschulen aktiv.
Qualität spricht sich eben rum. Im Bollenpiepe kocht nicht irgendeiner. Betreiber und Küchenchef ist Marcus Kümmel, ein Mann, den eine Vision umtrieb: Noch vor ein paar Jahren leitete Kümmel gemeinsam mit Niklas Mirinioui die Küche im veganen Fine-Dining- Restaurant Kopps in Mitte, wo ich öfter essen war. Dort perfektionierte Kümmel verschiedenste Prozesse, um aus Gemüse die unglaublichsten Aromen und Texturen rauszuholen, wie ich bestätigen kann. Aus über 50 verschiedenen Gemüsesorten erwuchsen völlig neue Geschmackserlebnisse.
Marcus Kümmel wollte aber nicht nur für eine Minderheit kochen, die sich Fine Dining leisten kann. Er lebt mit Familie und zwei Kindern in Pankow, vor über einem Jahr entdeckte er diese verlassene Vereinsgaststätte in der Siedlergemeinschaft und bewarb sich als Pächter. Seine Vision, im Nirgendwo ein vernünftiges, gemüsebasiertes Restaurant aufzumachen, das sich jedermann leisten kann, hat er mit dem Bollenpiepe verwirklicht.
Üppig belegt: In der Gaststätte wird ein hausgemachtes Focaccia mit Aioli serviert.Anne Schönharting/Ostkreutz
Vorspeisen kosten um die acht Euro, Hauptgerichte zwischen 12 und 16 Euro. Damit die Preise zivil bleiben, hat der Küchenchef den Arbeitsaufwand pro Gericht reduziert. Kümmel gleicht es mit Wissen, Technik und guter Vorbereitung aus. Wer sich ein bisschen auskennt, weiß: Vegan kochen ohne wie hier auf Seitan, Tofu, Beyond Meat und ähnliche Ersatzprodukte zurückzugreifen, ist extrem arbeitsintensiv. Der tiefe Umamigeschmack bei Gemüse wird häufig erst durch Aufspaltung der Proteine mittels Fermentieren und anderen Zerlegungsprozessen herausgekitzelt.
Auch hier gibt es stets etwas Eingelegtes am Teller. Die meisten essen Knoblauchbrot, es scheint das Signature: Hausgemachtes Foccaccia und Aioli als Basis, die mit Wildkräutern und Sprossen, süß-sauer gebeizten roten Zwiebeln und Tomaten wie ein Gemälde dekoriert ist.
Die Gartenqualität schmecken
Auch bei meiner Vorspeise, zarten Mai-Rübchen, ist es die harmonische Fülle aus verschiedensten knackigen Saaten, frischen Kräutern und eingelegtem Gemüse, die überzeugt. Die erdig-bitteren, gut gesalzenen Mai-Rübchen sind kurz blanchiert, geviertelt und noch knackig.
In ihrer Mitte liegt geschredderter Salat mit poppender Senfsaat, hinzu kommen marinierte Zwiebelschnitzen, Radieschen und golden bestäubte Sonnenblumenkerne. Darunter verbirgt sich jedoch eine zweite, süßlichere Geschmacksebene aus gebröseltem Pumpernickel und einem cremigen Frischkäse, zum dem sich Akzente eines Aprikosenmuses mischen. Was für ein Prachtgericht!
In der Hocherntephase käme manchmal kistenweise Gemüse an, erzählte Marcus Kümmel einem Fernsehteam, dem das Bollenpiepe einen Beitrag wert war. Er tausche es dann gegen fertiges Essen. Ich meine, diese Gartenqualität ist zu schmecken.
Heute im Angebot: Gelegentlich wechseln die Gerichte.Anne Schönharting/Ostkreutz
Nicht weniger begeistert bin ich vom grünen Erbsen-Risotto, das auf einem hellblauen Teller serviert wird. Hier kommt kein pampiges oder zu festes Reisgericht, in dem sich ein paar Erbsen finden. Es verhält sich andersrum: Die gestampften, sämigen Erbsen übernehmen geschmacklich die Hauptrolle. Darin mischen sich etwas nussiger Reis und karamellierte Karotten; Zuckerschoten, Minze und Kräuter übernehmen ein erfrischendes Finish obenauf. Einfach löffeln und ohne Angst genießen, weil es im Gegensatz zu Fine Dining genug davon am Teller gibt.
Trotzdem steckt hinter jeder einzelnen Zutat ein Gedanke, und Marcus Kümmel nutzt verschiedenste Zubereitungstechniken. Deutlich ist das auch bei der Roten Bete zu schmecken. Die ist im Ganzen gebacken und lauwarm geviertelt, einmal mit Kartoffelstampf präsentiert und einmal mit zwei knusprig frittierten Kartoffelriegeln. Dazu gesellen sich eine leichte Meerrettichsoße mit Dillöl sowie Birnenschnitzen, Wildkräuter und gehobelter Kren.
Wer unbedingt ein Stück konfierten Zander, eine Boulette, Hähnchenschnitzel oder auch eine geschmorte Lammkeule dazu will, kann diese extra bestellen. Diese Konzession hat Marcus Kümmel an die Laubenpieper gemacht, die anfangs skeptisch waren. Ich garantiere jedoch: Es fehlt rein gar nichts.
Vorspeisen 7,50-8,50 Euro, Hauptspeisen 12,50-16,50 Euro, Fleischbeilagen 8,50-13 Euro, Eis und Dessert 2,50-8,50 Euro
Restaurant Bollenpiepe. Kräuterplatz 3, 13158 Berlin, Mi-Do 17.30-21 Uhr, Fr bis 22 Uhr, Sa 12-14.30 Uhr und 15.30-22 Uhr, So bis 20 Uhr, Tel.: 030 88928183, info@bollenpiepe.de, www.bollenpiepe.de