Leipzig. „Ich dachte lange: Ich kann die Geburtsszene nie vorlesen. Das kann ich den Leuten im Publikum nicht zumuten“, sagt Bettina Wilpert. Danach tut die Leipziger Autorin genau das. Sie liest die vier Seiten aus ihrem Buch „Die bärtige Frau“ (2025) in der die Hauptperson Alex ihr Kind auf die Welt bringt. Bruchstückartig nimmt Wilpert die Zuhörerinnen mit ins Delirium der Geburt: „sie schreit nicht einmal mehr, hat keine Kraft mehr dafür“. Am Ende der Szene überlegt Alex, ob sich vielleicht alle Menschen, die Kinder kriegen, wie Gott fühlen „und es bloß keiner ausspricht“.
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Das Aussprechen und Aufschreiben von Dingen, die sonst kaum jemand laut sagt, ist Bettina Wilperts Spezialgebiet. „Das ist das, was der Verlag als ‚radikale Körperlichkeit’ bezeichnet“, sagt sie mit einem Funken Ironie in der Stimme. Die Handlung des Buchs ist lediglich ein Rahmen. Alex soll ihrer Mutter nach einem Unfall helfen und verbringt dafür zum ersten Mal vier Tage ohne ihre einjährige Tochter. So kommt sie ins Reflektieren.
„Verschwindet die Queerness der Protagonistin mit der Mutterrolle?“
Am Donnerstagabend bei Bettina Wilperts Lesung im Conne Island, gemeinsam mit der Verlags-Kollegin Simoné Goldschmidt-Lechner („Nerd Girl Magic“), erzählt Wilpert von Milchstau, von Ausfluss und davon, wie groß die Nachgeburt ist.
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Die Autorinnen vom Verbrecher Verlag sitzen an einem kleinen Tisch auf der Bühne im Garten des Conne Island. Das Licht der Abendsonne bricht sich an einer Discokugel, die sich langsam dreht. Nicht alle Stühle sind besetzt. Interaktion mit dem Publikum ist nicht vorgesehen, die Autorinnen stellen einander Fragen. Das ist gleichzeitig schade und bereichernd. Schade, weil Input von den Zuhörerinnen spontanes Reagieren erfordert und neue Perspektiven auf den Tisch bringt. Bereichernd, weil Goldschmidt-Lechner sehr kluge Fragen stellt.
Zu Beispiel: „Verschwindet die Queerness der Protagonistin mit der Mutterrolle? Oder ist Mutterschaft etwas inhärent Queeres für dich?“ Für Wilpert ist die Antwort Letzteres. „Aber trotzdem fällt man durch das Muttersein leicht in konservative Rollen zurück.“ Zum Beispiel, weil das Baby viel bei der Mutter bleiben müsse, wenn diese stillt. In einer gleichberechtigten Hetero-Partnerschaft könne das eine Herausforderung darstellen. „Es ist kein Geheimnis, dass dieser Roman stark autobiografisch geprägt ist“, sagt Wilpert und lacht. „Ich habe zwei kleine Kinder.“ Wie sie selbst kommt auch Alex aus Bayern und lebt in Leipzig.
Es ist kein Geheimnis, dass dieser Roman stark autobiografisch geprägt ist. Ich habe zwei kleine Kinder.
Bettina Wilpert
Autorin aus Leipzig
Der größte Teil des Buchs spielt in einem kleinen bayrischen Dorf bei Alex‘ Mutter. Nicht in Leipzig, wie Wilperts Romane „Herumtreiberinnen“ (2022) und „Nichts, was uns passiert“ (2018). Das Aufwachsen im katholischen Bayern habe ihr Mutterbild geprägt, sagt Wilpert. „Das ist etwas, an dem ich mich viel abarbeite, seit ich in Ostdeutschland lebe.“ Da sei ein konstantes Schuldgefühl als Mutter, das sie mit der Religion verbindet, die uns einrede, Menschen seien von Grund auf schuldig und schlecht. Die „Gebetsszene“ ihres Romans lese Wilpert in Leipzig aber nie vor. „Mit dem Christentum können viele Menschen hier nichts anfangen.“
Bei mehreren Szenen in „Die bärtige Frau“ wird klar, dass nur eine Person, die am eigenen Leib eine Geburt und Schwangerschaft erlebt hat, diese so detailliert beschreiben könnte. „Es ist eine individuelle Geschichte, aber es steckt auch Informationsgehalt drin“, sagt Wilpert. Zum Beispiel habe sie viel Literatur über das Muttersein gelesen. „Dabei ist mir aufgefallen, dass die Geburt fast nie beschrieben wird.“
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Körpererfahrungen, die sonst ausgeklammert werden, die Scham hervorrufen, hat Wilpert abgebildet. Sie finde es faszinierend, was ihr Körper schaffen kann, sagt sie. Einen neuen Menschen gebären. Dazu gehört, dass der Körper der Mutter verändert wird. Sollte es als „radikal“ (von lateinisch radix, Wurzel) gelten, diese Veränderungen aufzuschreiben? In einer idealen Welt nicht. In einer idealen Welt muss die Literaturszene nicht von der Wurzel her verändert werden, damit leibliche Mütter über ihre Erfahrungen lesen können. Aber was bleibt ist, die Gegenwart, und hier ist es mutig, Szenen über den eigenen verletzlichen Körper zu schreiben, und sie auf der Bühne vorzulesen.
Info: Bettina Wilpert: Die bärtige Frau. Roman. Verbrecher Verlag; 192 Seiten, 22 Euro.
LVZ