Als Adlan Margoew, wissenschaftlicher Mitarbeiter am renommierten Moskauer Institut für Internationale Beziehungen, Mitte vergangener Woche aus der russischen in die iranische Hauptstadt flog, dachte er noch, es werde eine ganz normale Dienstreise. Der russische Nahost-Experte sollte auf einer Konferenz in Teheran mit iranischen Kollegen zu Brics, der russisch-iranischen Partnerschaft und der „neuen Weltordnung“ debattieren.
Doch daraus wurde nichts. Mit Beginn der Eskalation zwischen Israel und dem Iran am vergangenen Donnerstag rückten all die russisch-iranischen Themen schlagartig in den Hintergrund. Gegenüber dem Kommersant sagte Margoew zwar, der Ablauf der Konferenz müsse aufgrund der israelischen Angriffe nur wenige Anpassungen erfahren – doch entnimmt man ihm sowie zahlreichen anderen russischen Politexperten sehr wohl die Anspannung, möglicherweise einen weiteren Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten zu verlieren.
Verliert Russland seinen wichtigsten Verbündeten in der Region?
Als die Armee sowie die Geheimdienste Israels vor einer Woche mit der Operation „Rising Lion“ das Mullah-Regime angriffen, reagierte der Kreml mit den üblichen diplomatischen Verurteilungen. Die israelischen Schläge seien „illegal“ und eine „Bedrohung für die internationale Sicherheit“, erklärte das russische Außenministerium. Russische Staatsmedien wie der Erste Kanal oder Russia Today berichteten von „alarmierenden“ und „gefährlichen“ Zuständen im Iran, ohne jedoch eine direkte militärische Unterstützung für den Iran zu fordern.
Auf kremlnahen Telegram-Kanälen ging es nicht mehr um Schlachten in den Dörfern entlang der Donbassfront, sondern um Bombenangriffe auf Tel Aviv und Teheran. Immer wieder kommentieren Kriegsblogger, Russland dürfe nicht hilflos am Rand stehen – unfähig oder unwillig, seinem Verbündeten beizustehen. Ein Regimechange in Teheran müsse verhindert werden, so der Tenor.
Auf den ersten Blick ist die Lage in Nahost für den Kreml eine Demütigung. Russland hat historisch enge Beziehungen in die Region, die Nahost-Expertise in Moskauer oder Petersburger Orientalistik-Instituten ist weltweit anerkannt, geprägt von umfassenden und detaillierten Kenntnissen über den Iran, seine Bevölkerung und Kultur, die wirtschaftspolitischen Komponenten ebenso wie die geostrategischen. Und doch ergibt sich nach über einer Woche der Eskalation der Eindruck, Russland stehe im Abseits und sehe tatenlos zu, wie der „strategische Partner“ vom Mossad militärisch düpiert wird.
Ein iranischer Feuerwehrmann ist nach einer Explosion in der Hauptstadt Teheran im Einsatz.Vahid Salemi/AP/dpa
Militärisch in den Konflikt eingreifen werde Russland nicht, sind sich Beobachter im Land einig. Die russischen Streitkräfte sind bereits durch den Ukrainekrieg gebunden. Die Ressourcen in der Armee sind auch im geografisch größten Land der Erde nicht unendlich. Teheran ist zwar für Russland ein wichtiger Verbündeter, nicht aber ein überlebenswichtiges Element in der geostrategischen Ausrichtung. Russland produziert mittlerweile eigene Shahed-Drohnen und hat die vergleichsweise günstigen iranischen Technologien gewinnorientiert kopiert. Zudem stocken russische Waffenlieferung in die Gegenrichtung: Trotz wiederholter Bitten aus Teheran lieferte Moskau weder moderne Su-35-Kampfjets noch reparierte es die von Israel zerstörten S-300-Luftabwehrsysteme.
Hinzu kommt ein scheinbar schwindender Einfluss Russlands in der Region. Erst vor wenigen Monaten wurde völlig überraschend die syrische Führung unter Machthaber Baschar al-Assad gestürzt. Dieser floh anschließend nach Moskau. Auch im Irak und Libyen büßte Russland empfindlich an Einfluss ein. Nun könnte mit dem Iran ein weiterer Pfeiler der russischen Einflusssphäre im Nahen Osten fallen. Ein zudem viel wichtigerer und bedeutenderer Partner, als es Syrien je war.
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Putin kann vom Krieg im Iran profitieren
Doch damit ist keinesfalls die ganze Geschichte erzählt. Während die Welt derzeit auf brennende Öl- und Atomanlagen im Iran oder Raketenschläge über Tel Aviv blickt, reibt sich Präsident Wladimir Putin insgeheim die Hände. Die Lage ist für ihn nämlich nicht ganz so schlimm, wie es scheint. Denn inmitten des geopolitischen Chaos erkennt Russland auch unerwartete Gewinne aus der prekären Lage.
Die russische Wirtschaft profitiert als einer der weltweit größten Öl- und Gasproduzenten davon, wenn es in der krisengebeutelten, energiereichen Region brennt und globale Märkte infolgedessen in Panik geraten. Seit Beginn der israelischen Angriffe ist der Ölpreis um fast zehn Prozent gestiegen, was dem Kreml dringend benötigte Einnahmen beschert. Sollte der Konflikt die iranischen Ölexporte in die Welt weiter drosseln, könnte China – der größte Abnehmer iranischen Öls – noch stärker auf russische Rohstoffe zurückgreifen. Analysten der Moskauer Higher School of Economics rechnen bereits mit einem Anstieg der russischen Energieexporte nach Asien um bis zu 15 Prozent. In den Chefetagen bei Gazprom, Rosneft und Lukoil werden nicht unbedingt die Champagnerkorken knallen. Aber die nächste Gewinnmarge dürfte ganz sicher höher ausfallen und dementsprechend für volle Umsatzbücher sorgen.
Bei aller Solidarität mit den Partnern im Iran: Für die russische Führung ist der Ukrainekrieg der weitaus relevantere Krieg. Putin sprach am Rande des gerade stattfindenden Sankt Petersburger Wirtschaftsforums (SPIEF) davon, dass die russische Armee in der Ukraine die Initiative ergriffen habe. Militärexperten wie Markus Reisner sprechen von einer Sommeroffensive, auf die sich die Ukraine vorbereiten müsse.
Während sich die Weltpolitik nun auf den Iran-Israel-Krieg fokussiert, werde Russland die Gelegenheit nutzen, um in der Ostukraine ihre Offensiven zu verstärken, so die Interpretation im Moskowski Komsomolez. „Kiew ist vergessen“, jubelte die regierungsnahe Tageszeitung mit boulevardartigem Zuschnitt. US-Präsident Donald Trump, der sich noch vor wenigen Wochen voll auf eine Lösung im Ukrainekrieg konzentrierte, habe das Thema abrupt fallen lassen – zugunsten der Krise im Nahen Osten. Der Gewinner: „Wir“, so russische Zeitungen.
Putin und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu werden enge persönliche Beziehungen nachgesagt.Abir Sultan/imago
Es geht jedoch nicht nur um ein Ablenken von der Ukraine. Russland bietet sich zudem als Vermittler im Israel-Iran-Krieg an. Der Verbrecher Putin als Friedensstifter? Selbst Trump schien nicht vollends abgeneigt von der Idee. Fest steht: Der russische Präsident telefonierte – als weltweit einziger Staatschef – binnen einer Woche sowohl mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, mit dem iranischen Präsidenten Massud Peseschkian als auch mit Präsident Trump. Russland pflegt enge Beziehungen zum Iran, hat jedoch auch die Kontakte nach Jerusalem nie vollständig abgebrochen. Die Telefonleitung nach Washington dürfte seit Januar dieses Jahrs sowieso die kürzeste sein. Diese einzigartige Position zu allen drei Akteuren weiß Putin zu nutzen.
Wenn das Angebot des Kremls, in dem Konflikt zu vermitteln, angenommen werden würde, könnte sich Putin trotz seines Krieges in der Ukraine als wichtiger Akteur im Nahen Osten inszenieren. Und noch viel wichtiger: Moskau könnte das Narrativ stärken, man brauche den Kreml als globale Schlüsselmacht zur Lösung großer Konflikte. Es wäre eine Art diplomatischer Triumph für Putin. Von einer internationalen Isolation Russlands – von der heute noch in Brüssel gesprochen wird – wäre dann nichts mehr übrig.
Eine spannende Interpretation liefert auch der russische Politikwissenschaftler Andrej Kortunow. Dieser schreibt im Kommersant, der Israel-Iran-Konflikt könnte Washington und Moskau schlussendlich sogar einander näherbringen. Kremlstrategen würden intensiv daran arbeiten „gemeinsam und produktiv mit den USA“ die Probleme im Nahen Osten zu lösen, um „wieder für Stabilität in der Region“ zu sorgen.
Putin erinnerte Trump beim jüngsten Telefonat daran, dass Russland einst Partner der USA bei der Eindämmung des iranischen Atomprogramms war – und signalisierte Bereitschaft, diese Rolle wieder einzunehmen. Sollte es zu neuen Verhandlungen kommen, könnte Moskau anbieten, angereichertes Uran aus dem Iran bei sich im Land zu lagern – ein diplomatischer Coup, auf den Trump eingehen würde, glaubt Kortunow.
Krieg in Nahost: Der große Verlierer ist die Ukraine
Putin steht also vor einer geopolitisch paradoxen Gemengelage. Ein Sieg Israels über den Iran, einhergehend mit einem Regimechange in Teheran, würde Moskau den wichtigsten Verbündeten in der Region kosten. Das wäre ohne Frage eine geostrategische Niederlage für den Kreml. Doch gleichzeitig könnte Russland wirtschaftlich und diplomatisch gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen. Die russische Führung hat in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass in der Geopolitik chaotische Zustände nicht immer schlecht sind.
Ohne zu wissen, wie sich der Krieg zwischen Israel und Iran in den kommenden Tagen und Wochen weiterentwickelt, steht jetzt schon der große Verlierer fest: die Ukraine. Während Washington, Europa, Asien und der Globale Süden auf den Nahen Osten schauen, gerät der Krieg im Osten Europas – trotz der massiven Drohnen- und Raketenangriffe auf Kiew und Odessa – in Vergessenheit. Ein besseres Szenario hätte sich Putin kaum ausmalen können.